Navis - Kindheitserinnerung


 

Navis, 1346 Meter, Navis auf dem Parkplatz in der Sackgasse am Talende. Von dort bis zum Ende des Talkessels sind es mehrere Stunden Marsch bis in eine Höhe von 2891 Meter: der Reckner.

Navis ist seit meiner frühen Kindheit wie meine zweite Heimat. Hier hat mich mein Vater lesen und schreiben gelehrt mit seiner  harten Art physischer Strafen, links und rechts mit seinen großen, starken Händen hinter meine weichen, zarten Löffel.

Navis war meine Erholungs- und Rehabilitationszentrum: 1972 mit meiner ersten Ehefrau Elka nach einem Nervenzusammenbruch, 1971 nach mehreren Elektroschocks, sieben Tage im Koma und drei Monate lang in einer psychiatrischen Anstalt. Verdammt, wie habe ich diese großspecherischen Experten bei bester Besoldung und minimalstem Mitgefühl hassen gelernt!



Allein auf dem Reckner: Sonntag 30. Juli 1989

 

Navis hat mir gleich zweimal, 1972, und nach meiner ersten, chaotischen Halbjahresreise Türkei-Afghanistan-Pakistan-Indien-Sri Lanka-Singapore-Kuala Lumpur-Thaiand - 1976 ganz allein - Gesundheit, Stärke und Stabilität wieder geschenkt. Zumindest soviel Stärke und Stabilität, irgendwie weiter zu machen.

Beide Sommer, 1972 und 1976, habe ich als Almsenner  in einer aus Baumstämmen gezimmerten zwei-, dreihundert Jahre alten Hütte gelebt, der Voestn-Alm - 1881 Meter. Vom Parkplatz kann ich jetzt diesen gesegneten Platz auf der Nordseite des Tals sehen. In diesem Tal habe ich mich auf die Natur eingestimmt, auf mich selbst. Kleine Schneefelder umrahmen noch diesen heilsamen Platz, wo ich auf Kälber und einige Ziegen aufpassen musste, die mir Milch und Ziegenkäse gaben.

Mimamai ist dieses Wochenende bei mir, welches am Morgen mit einer 20 Kilometer Fahrradtour zu meiner Arbeit begann. Am Nachmittag holt mich meine Frau mit Nobydick, dem wunderbare Heim rollender Wunder, auf dessen Rücken wir unsere beide Räder packen.




 zwei-, dreihundert Jahre alte Hütte, 
die Voestn-Alm - 1881 Meter, Samstag, 11.06.05

 

Wir bewundern auf dem Parkplatz drei Pferde, ein Kleines mit zwei großen Müttern. Wein und Nachtgespräche inspirieren den Abend, bis meine kleine Frau Schlaf im oberen Bett von Nobydick findet.

Mein rollendes, nun stehendes Bett unten dient mir als Sitz und als stille Denkwerkstatt, um Stress mit Geschichten abzubauen.

Geschichten über das globale Disaster. Die US-Amerikaner drucken wie verrückt Dollars seit Jahrzehnten. Diese Dollars stellen längst nicht mehr die Wirklichkeit dar. Es gibt viel weniger Öl, Wasser, Land, Nahrung und Güter, als diese  gedruckten Dollar-Scheine weismachen wollen. Und immer noch drucken diese Amerikaner mehr und mehr und. Die Menschen überall auf der Welt arbeiten für diese Yankee-Dollars, für diese US-Amerikaner.

Deutsche verkaufen Mercedes, Porsche and BMWs, Chinesen produzieren für den Wal Markt Millionen Dollar Werte wie Hemden, Hosen, Schuhe, Inder berechnen Steuern und organisieren die Infrastruktur mit hochqualifiziertem Computer und diszipliniertem Verstand, Saudi Arabien, Irak und Iran verkaufen Öl, ein begrenzter Erdschatz für den Energie-Durst dieser US-Amerikaner, und darüberhinaus bauen diese US-Americkner die besten Waffen, um das Ungleichgewicht der Wert-, Welt- und Mensch-Ausbeutung zu erhalten.



Wir bewundern auf dem Parkplatz drei Pferde, ..
(Blick aus der Windschutzscheibe)

 

Japaner arbeiten weltweit für die beste Digital-Ausrüstung wie Video, TV und Digital Kameras, alles am besten dazu geeignet, die armen Menschen mit Hollywood Hirnwäsche zu hypnotisieren. Diese Hirnwäsche lässt ein Verlangen wie nach Gesundheitsoperationen wachsen, um eine so gestylte Schönheit als Ausdruck seiner materiellen Selbstverwirklichung anzupreisen. Sex, Geld, Macht und Gewalt - lügende Masken schmeichlerischer Freundlichkeit, ein Establishment der Reichen und Schönen, die am Abgrund tanzen. 

Die Szene erinnert mich an die ruhmreichen Tage von Berlin vor dem zweiten Weltkrieg, Tage großartigen Theaters, Künstler, Moderner Musik, Gemälden und Poesie.

Für mein Gefühl, leidet gleichsam wie im Berlin der 20iger Jahre die ganze Welt nun an diesen sozialen Verwerfungen. Alle großen Städte, alle Weltweiten Metropolen  arbeiten ähnlich mit McDonald Jobs, dem Tag-Nacht-Rythmus, einem makabren Tanz am Abgrund.

Entweder bist Du stark genug, zu gewinnen und bereit, Deine Gefühle für die verlorenen Armen abzutöten, oder Du gehst selbst unter.



Sex, Geld, Macht, Gewalt - Kufstein 12. Juni 2005

 

Viele Verlierer und Gewinner ertränken sich in Fluten von Alkohol, vernebeln sich im Zigarrettenqualm oder vergiften sich noch schlimmer, allesamt hypnotisiert von Begierden. Viele Menschen können sich so kaum befriedigen und ein Ende ist sicher: Die Armen werden 10, 20 oder noch mehr Jahre früher als die Reichen in ihren geschützten Ghettos sterben - abgeschnitten von den eigenen Gefühlen unter Masken von Gewalt und Lügen.

Oder junge Black-Niggaz erschießen sich in ihren Kämpfen für den Profit, der Sieger steckt alles ein, was Heroin, Prostitution und Erpressung hergeben. Wilde Musik feiert den Kriegsraum Großstadt mit Gangsta-Rap.

G*TT leidet, wenn es ihn denn gäbe, die Natur leidet, Menschen, Tiere, das Klima, jeder und alles leidet. Noch geben die Menschen in den Luxusländern so etwas wie Friede vor, ein tödlicher Frieden, der die Armen umbringt und die Gefühle von Einheit, Eins und zusammen zu sein, dazu. Ein tödliches, tödliches, tödliches Theater. Ein Tanz von Gewalt, eine Atom Bombe im kollektiven Bewußtsein, eine Geld raffende und Natur zerstörende Machine. Jeder weiß Bescheid und niemand hält ein.

Die Armen bringen sich selbst mit Drogen und dieser hypnotischen-medialen, kranken Hirnwäsche um, kaum einer kann noch schweigen, in Frieden beisammen sitzen ohne den verzweifelten Schrei, das nächste geträumte Verlangen zu stillen. Und so spinnt Mama Maya ihr Rad.

Navis befeuert diese Inspirationen bei kalten, anstrengenden Ausflügen in die Berghöhen, wo der Atem von Mutter Natur uns menschliche Ameisen küsst, die wir in Dunkelheit krauchen.

Navis sagt ''Gute Freitagsnacht'' unter einem kalten, sternklaren Himmel. Gute Nacht!



Und so spinnt Mama Maya ihr Rad.

 

Nein, wirklich nicht, meine Kindheitserinnerungen sind nicht immer angenehm. 1948 in einer alten Preussischen Kriegerfamilie geboren, hat mich immer dieser schreckliche Terror begleitet, nichts und niemandem zu vertrauen - nicht einmal meinen eigen Eltern, am wenigsten meinem Vater.

Hier in Navis, wo er mich lesen und schreiben unter einem quälenden Terror von disziplinierender Gewalt gelehrt hat, da bestand schon immer dieses Gefühl wie im Krieg, entweder Du kommst durch oder nicht.

Der Lehrer in Navis, ein schlanker, trainierter, harter Mann, hatte zwei wunderschöne Töchter, Luisl und Vronli, die mein Bruder und ich von frühester Kindheit auf kannten.

Mein ersten Besuche in Navis liegen mehr als 50 Jahre zurück - ich war nicht mehr als sechs Jahre alt - und bin beinahe jedes Jahr wieder nach Navis gekommen.

Der Naviser Lehrer konnte wie ein Berserker Ski fahren, den steilsten Hügen hinter der Naviser Kirche hinuter. Der Hügel ist so steil, dass die Erdmassen sich abwärts bewegt haben. So musste die alte Kirche abgerissen werden, nur ihr Kirchturm blieb.

Der Naviser Lehrer hatte seinen rechten Arm, direkt unter dem Schulterblatt, amputiert. Und in diesen Zeiten damals gab es keinen Lift, so dass jeder selbst hochklettern musste.



der steilste Hügel hinter der Naviser Kirche

 

Später, als ich von der ersten in die weiterführenden Schulen kam, haben wir grausige Gerüchte gehört, dass im Krieg Juden in ganz Europa von SS-Truppen der deutschen Nazis getötet worden seien. Diese SS-Soldaten hatten eine Nummer unter ihrem rechten Arm bis hin zur Schulter eintätowiert.

Als der Krieg verloren war, haben viele SS-Soldaten von Ärzten verlangt, ihren Arm mit der eingravierten Nummer abzuschneiden. So konnten diese verkrüppelten SS-Männer ihre Karriere nach dem Krieg ohne allzu große Schwierigkeiten fortsetzen.

Wer die alte Brenner Straße von Innsbruck aus hochfährt, verläßt diese Straße in Matrei, um ins Navis-Tal westlich einzubiegen. Die Straße beginnt mit einem steilsten Stück, in deren Mauer ein Hakenkreuz eingraviert war. Erst vor wenigen Jahren wurde dieses Nazi-Symbol von der Mauer entfernt.

Ob der Lehrer in Navis ein SS-Mann war oder nicht, weiß ich nicht. Seine älteste Tochter Vronli wuchst vom Kind zum lieblichen, jungen Mädchen. Und wie ihre Rundungen ihre Bluse zu füllen begannen, so wurde ich von Begierde nach ihr erfüllt.

Nach Jahren hörte ich, dass Vronli in den Bergen tödlich abgestürzt sei. So ist die älteste Tochter des Naviser Lehrers irgendwie wie der älteste Sohn meines Vaters gestorben, mein Halbbruder Heinz. Seit  frühesten Kindheit habe ich dieses Gefühl, es gehe um Tod oder Leben.




Seit  frühesten Kindheit habe ich dieses Gefühl, 
es gehe um Tod oder Leben.

 

In meinen älteren Tagen jetzt mit 57 Jahren entspannt sich's im Innern mehr und mehr, weil das Rattenrennen um Geld, Macht und weiblichen Schutz sich verlangsamt. 

Diese Gefühle um einen Überlebenskampf sind auch daher nicht mehr so ausgeprägt, weil irgendetwas im Innern erkennt, dass dieser Kampf auf Leben und Tod ohnehin nicht zu gewinnen ist.

Vom Tod meines Vaters und dem Greisenalter meiner Mutter, vom Ruhestand meines Halbbruder Dieter als 80 % behindertem Millionär Mister Most Important, schwinden meine gierigen Kämpfe und Krämpfe um spirituellen oder materiellen Erfolg mehr und mehr.

Nobydick, das rollende Haus, beschützt uns mehr als in einer symbolischen Art vor der ersten, frostkalten Freitagnacht. Die Nacht in dieses Höhen friert  Eis mitten im Juni.

Der sonnige Morgenmarsch bringt meine Erinnerungen zu meiner Zeit als Senner  zurück. Wir spazieren von der Naviser Kirche zu meinem westlichen Nachbarn damals, länger als 30 Jahre her, zur Stippler Alm. Die Szene berührt mich: Der Ofen, an dem wir manchen Nachmittag gesessen haben, um Bier zu schlürfen und an einer einfachen Tabakpfeife zu nuckeln, dieser Ofen steht in einer Ruine ohne Dach und Wände. 



dieser Ofen steht in einer Ruine ohne Dach und Wände

 

Das Weideland nahe der Baumgrenze ist mir gut bekannt. Ich kann Mimamai im voraus sagen, wo ein kleiner See auftaucht, oder von wo aus wir einen herrlichen Blick über das Tal bekommen.

Von diesen Erinnerung begleitet, taucht die Voestn Alm auf, wo ich von weitem eine Frau erkenne, die etwas am Boden einsammelt. Von den Bewegungen erkenne ich sofort die Witwe meines Bauern-Boss Resi.

Wir sitzen zusammen und unterhalten uns. Mein Bauernboss ist tot, einer seiner jüngerer Bruder ebenfalls. Aber eines Bruder's Sohn heiratet heut. Das Leben geht immer weiter.



Mima und Resi

 

Die wenigen Stunden in der Bergsonne sind zuviel für meinen empfindlichen Körper. 

Nobydick parkt neben dem Pfarrhaus, einem mehrere Jahrhunderte alten Gebäude, das Widum heißt. Das Auto ist auf 34 Grad in der Sonne aufgeheizt. Beinahe eine Stunde lang schlafe ich bei offener Tür, um mich und den Innenraum abkühlen zu lassen. Kopfschmerzen kommen. Wieder einmal habe ich den zweiten Sonnenstich in diesem Jahr, der mir den Magen umdreht.

Jegliche Nahrung kommt in mehreren Anläufen wieder heraus. Stunden heilsamen Schlafes unterbrechen die Tortur.

Gegen Mitternacht parkt ein anderer Wagen neben uns. Drei Menschen kommen aus dem Wagen, falten ihre Matrazen und Schlafsäcke auf dem Boden aus und schlüpfen hinein. Zwei Stunden später, Nobydick's Ofen heizt, fällt leichter, aber kalten Regen. Es ist 2.30 Uhr in der Nacht - und hoffentlich kann ich noch in einigen Stunden Schlaf mein verbranntes Hirn und meinen von innen nach außen gedrehten Magen heilen. Gute Nacht.



Nobydick parkt neben dem Pfarrhaus

 

Irgendetwas würde in meinem Leben fehlen ohne meine Geschichten. Kümmert es Dich, wer welche Weisheiten wem gesagt hat? Wozu? Haben diese Weisheitswörter jemals irgendetwas geändert?

Wähle Dir irgendeine Unterhaltung, die Dir passt. Die Meine sind Wörter. Je weniger Weisheit, umso näher am Leben.



Je weniger Weisheit, umso näher am Leben