Vaters Sterben und Tod


Inhalt

 

1. Vaters Sterben und Tod

2. Gute Nacht und Reise!

3. Tod & Erleuchtung, glückliche Heimkehr

4. Die letzte Woche des Lebens - die Letzte?

5. Endlich wieder sein Lächeln!

6. Letztes Abenteuer oder Pech-&-Schwefel

7. Servus Vater

8. Prost Vadda!

9. Noch Wochen und Jahre

10. Santhara

11. Happy End und Rückblick

12. Das Begräbnis

 


 

Fürstenfeldbruck, Mittwoch, den 8.10.'97

Hiermit erkläre ich nüchtern und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte, daß ich für meinen Körper KEINE lebenserhaltenden oder auch nur lebensverlängernden maschinellen Eingriffe über einen längeren Zeitpunkt wünsche. Ich wünsche also KEIN maschinell erhaltenes oder verlängertes Leben, wenn die Selbstheilungskräfte meines Körpers versiegen und versagen.

Ich wünsche, daß die Heilkundigen mit ihrem kunstvollen Wissen mir dann eher helfen, leichter zu sterben, als schwer, qualvoll und mit geringen Heilungschancen meinen Körper maschinell am Leben zu halten.

München, Samstag, den 20.03.2004


 

1. Vaters Sterben und Tod

Donnerstag, am 20. November 1997, tickt sich der Zeiger der quadratischen, lauten, schwarzen Wohnzimmeruhr auf 2.00 Uhr in der Nacht.

Der abnehmende Mond hat in der letzten Stunde der Meditation etwa 10 Grad auf dem Himmelskreis vor der Wohnzimmerfensterflut gezogen. Vor 10 Tagen haben meine Freundin Mima und ich hier ein gastliches Lager bezogen. Sogar einen ihrer Haustürschlüssel hat Mütterchen uns gegeben.

Gestern mußte meine Freundin Mima ihren Urlaub mit mir hier abbrechen. Sie fährt heim in unsere gemeinsame Höhle von "Walroß" und "Erdferkel". Dort holt sie ihre letzten Waren für ihre Weihnachtsmarkthütte in Bamberg, die sie in vier Tage aufstellen muß.

Womit soll man in Vaters Sterbenächten spielen, wenn die Freundin abgefahren ist? Man spielt mit seinen Gedanken. Vielleicht findet ein Leser eigene Gedanken in diesen Seiten wieder. Dann macht Lesen Spaß. Wer anderes liest, als er denkt, verbrennt die Schrift.

Diese ersten Nächte in Vaters letzter Wohnung verdanken wir dem letzten Liebesdienst, der dem 91jährigen Greis zu geben ist: ihn ins Sterben zu begleiten. Meine 77jährige Mutter muß nach 50 Ehejahren lernen, den alten Griesgram gehen zu lassen.

Die Gastfreundschaft gewährt Mutter wohl mehr notgedrungen, weil verschiedene Welt-Anschauungen Zusammenleben eher verhindern, denn begünstigen.

Die Lebenswege der beiden anderen Brüder Ulrich und Dieter mögen ihr verständlicher scheinen, weil sie die gewohnten Identifikationen des Vaters fortsetzen. Diese beiden Brüder steuern wie Vater ihre Ehefrauen, die die Bedürfnisse und Erfordernisse ihrer Kinderbrut und -aufzucht leiten.

Die Brüder sind wie Vater weise genug, diese Leitung ihrer Frauen anzunehmen, was aller existenziellen Belange bestens sichern hilft.

Nur haben die Brüder im Rahmen ihrer Aufgaben nicht Zeit für den schönsten, einmaligen, letzten Dienst, Vaters Sterben zu begleiten und zu beschreiben. Vielleicht haben sie auch nicht den Nerv dazu, weil dabei Mutters Nerven zu unterstützen sind. Ob diese nun von Vaters Sterben oder ihrem aufreibenden Leben, Hegen und Vaters Pflegen angegriffen sind, versuchen wir zu verstehen.

Im Prinzip ist alles ganz einfach: Ein Hirnschlag lähmte Vaters Sprachzentrum. Dieser dritte und schwerste Schlag liegt seit dem 8. August 1995 nunmehr 2 1/4 Jahr zurück. Direkt nach dem schweren Schlag brachte ihn der Krankenwagen in die Klinik, womit die Rehabilationsmedizin schnellstens zur Rettung schritt.

Allerdings hatte er zwischen seinem ersten Schlag am 3. September 1990 am Bodensee und dem zweiten im Herbst 1994 mit nur einstündigem Klinikgastspiel sich bei dem jüngsten Bruder schon darüber beschwert, daß ihm das Leben keinen Spaß mehr mache.

Nach dem dritten Schlag nun am 8. August 1995 war sein Wille zu sterben ganz klar.

Mutter und wir drei Brüder brauchen dazu keine seherische Sensibilität oder Fähigkeit, um diesen seinen stummen, flehenden Wunsch nach einem erlösenden Tod zu deuten.

Denn die Zwangsernährung-Sonde durch seine Nase riß er sich schon im Krankenhaus mehrmals heraus. Das mußte die sorgenvoll behandelnden Ärzte veranlassen, den 89jährigen Mann an sein Krankenbett zu fesseln.

Die ärztlichen Argumente sind so einleuchtend, wie sie sich in den weiteren Monaten und Jahren als falsch erweisen sollten. Sein Wille sei eben durch die Erkrankung zeitweise depressiv tief getrübt. Sein natürlicher Lebenswille werde sich mit der Zeit schon wieder einstellen. Sollte aber nicht.

Um seinem Lebenswillen also auf die Beine zu helfen, stieß der behandelnde Krankenhausarzt die bedrohlichen Worte aus:

"Ohne PEG verläßt er nicht das Haus!"

Ein PEG ist eine etwa drei bis vier Jahre alte hochtechnische, medizinische Lösung zur Zwangsernährung: die percutane, entro-"gastronomische" Schlauchernährung durch Bauch- und Magenwand.

Das Verfahren hatte die Medizin schon mal im ersten Weltkrieg angewandt, erzählt Dr. Harbig, der helfende Arzt. Damals nutzen es Soldaten, deren Speiseröhren verätzt waren. Sie kauten ihre Nahrung vor, um sie in ihren Bauchanschluß stopfen zu können. Die technische Weiterentwicklung zum Lebenserhalt sterbensmüder Greise blieb der Gesundheitsindustrie der 90er Jahre überlassen.

Da Vaters Lebenswillen nun aber ebenso schwach auf den Füßen stand wie sein ganzer Körper, wurde zur Entsorgung seines Urins eine weiter Schlauchleitung nötig. Diese führen die Ärzte durch die Harnröhre.

Auch diese Leitung riß Vater sich mehrmals im Krankenhaus heraus. Der Grund für diese Leitung ist wiederum berechtigte Sorge um die Haut des Patienten. Liegt der Leidende nämlich zu lange in seinem leicht ätzenden Urin, reißt seine Haut vorzeitig auf.

Im Laufe seines mehr als zweijährigen Pflegeheim-Martyriums konnte das geschulte Personal Vater immerhin davon überzeugen, daß sein Herausreißen der Harnleitung eben sinnlos ist. Welche Gewalt Schwester "Rabiata" dabei angewandt haben muß, war aus seinen Angstreaktionen in ihrer Nähe abzulesen.

Und eine Harnleitung neu zu verlegen, gehört zur medizinischen Routine. Diese Routine scheint für den Patienten allerdings ebenso qualvoll wie die monatliche Blasen- und Katheder-Spülung mit einer Kochsalzlösung. Denn danach sitzt Vater für Stunden immer apathisch und geschafft in seinem Rollstuhl.

Dabei genoß Vater im Pflegeheim noch den Ehren-Opa-Ohren-Sessel, in dem er zusammengesunken schlief. Im Bett am Tag zu schlafen, bleibt aus gutem, besorgten Grund verboten.

Die dünne, runzlige Haut der alten Leute liegt sich dabei zu schnell wund, obwohl eine Luftmatraze mit elektronisch geregelter dauernder Luftzufuhr Vaters Körper ständig sanft bewegt.

Das Pflegeheim hat es immerhin geschafft, seine Haut mehr als zwei Jahre lang in einem halbwegs intakten Zustand zu erhalten. Wunden, die Vater sich bei einem Sturz aus seinem Bett an den Schienenbeinen zuzieht, heilen allerdings nicht mehr aus. Auch die Liegehaut seines Hinterns auf seiner rechten Seite ist mittlerweile wundrot, was ihn oftmals bei eigenen Bewegungen oder denen durch die Bewegungsmatraze stöhnen läßt.

Mutter besucht ihn fast täglich. 1996 fuhr ich noch fast jeden Monat einmal die 1400 Kilometer-Strecke München-Dortmund-München, um beiden alten Leuten auf ihrem schweren Leidensweg zu helfen.

Vater versteht seine neue Pflegeheim-Welt noch weniger als er die Welt schon all seine letzten Jahrzehnte verstanden haben mag. Im Pflegeheim verstehen wir wohl alle die Welt nicht mehr.

Mutter warnt mahnend, daß sie bald nicht mehr könne. Der Jüngste orakelt aus der Heimatstadt Dortmund, daß wir vielleicht bald Vollwaisen sind, wenn sich nichts zum Besseren wendet.

Doch vorerst konnte ich mit zwei Freundinnen, Ma Deva Madira (die Frau mit dem göttlichen Wein) und später Ma Veet Mimansa (die Frau beyond analysis), vom Pfegeheim aus bei jedem unserer Besuche noch eine Rollstuhlrunde mit ihm drehen. Mutter brachte ihm immer Delikatessen, seine Lieblingsgerichte. Ihr dauernder Futterlockruf in ständiger Widerholung hallt ihr bis heute als unsere Neckerei nach:

"Schokoladchen!?"

Anfangs aß er sogar manchmal davon. Und trank sogar noch im Pflegeheim Kaffee.

Sein Urinbeutel ist bei diesen Ausflügen immer an sein Bein geschnallt. Anfangs konnte er sogar noch aufstehen und gehen. Stützend begleite ich den wankenden Greis auf seinem Gang zur Toilette, wo ich ihn vor das Pissoir stelle.

Natürlich kann er dort nicht pinkeln, weil ein Plastikschlauch seinen Harn in den Plastikbeutel an seinem Bein ableitet. Doch alte Gewohnheiten ändert ein 90jähriger nun noch weniger, wie er vor 20, 30 Jahren seine Anschauungen ändern konnte - noch wollte.

Und wozu auch? Seinen Beamtenstatus änderte auch ein Weltkrieg nicht, an dem alle Beteiligte ihre sadomasochischen Leidens-Freuden und mörderische Destruktivität ausleben konnten und durften. Ein Vietnamkrieg war ohnehin ein seiner Welt fernes Desaster.

Die Identifikationen mit der festen und unumstößlichen Richtigkeit seiner Anschauungen konnten diese kollektiven Irrwege ebenso wenig erschüttern wie der Tod der ersten Frau oder der des ältesten Sohnes. Und mit seinen Identifikationen wird er wohl auch sterben, wenn ihn nicht noch die Gnade erleuchtender Erkenntnis küßt.

Sein Weg war ebenso richtig wie konsequent. Leid und Lust gab es in den beschränkten Dosierungen der bürgerlichen Konvention, so ehrlich und dogmatisch, daß neben der Ehefrau nicht einmal Platz für eine Freundin blieb.

Jedenfalls wurde uns davon ebenso wenig ruchbar wie bei den erfolgreichen Zugewinngemeinschaften der beiden Brüder, die sich neben Besitz von Frau und Kindern auch ihrer abzahlbaren Immobilien erfreuen.

Und so wird das Leben ihrer Kinder seinen geregelten Gang in der gleichen Erfreulichkeit nehmen, wie Vater und Mutter ihr Leben erfreute.

Daß dies Leben daheim sonderlich erfreulich war, verneint Mutter allerdings heut noch. Doch wenn sie dies liest, wird sie etwa so Einspruch erheben:

"Es gab auch viele schöne Stunden."

Nur freuten uns wie sie daheim die Stunden immer weniger. Selbst Menschen, die aus ihrer Interessenlage den Gang der Dinge anders sehen würden wollen, müssen wohl eingestehen, daß die konsequente Lust- und Schmerzvermeidungs-Strategie im Streß des Pflegeheims am Ende eines erfüllten Lebens einfach nicht mehr zu halten ist. Kurz gesagt, das Pflegeheim bietet eine negative Lustbilanz.

Daß Vaters Zimmergenossen im von katholischen, indischen, jungen Nonnen geführten Heim der Reihe nach starben, läßt sich mit Mitgefühl noch ertragen: der Zuckerkranke mit amputiertem Unterleib, der Alzheimer, der geführt von seiner Frau an einem Gummiring trottelte, der jahrelang Bettlägerige im Veitstanz Zuckende, dessen Sohn Leiden und Pflegeheimbett erbt, die Irre im Rollstuhl mit dem ewig monotonen Einwort-Gebrabbel. Pflegeheim scheint wie Satsang, Stunde der Wahrheit zu sein. Bruder Ulrich umschreibt diese Endstation im vierten Stock blumig mit dem "Turm-der-lebenden-Leichen".

Die Vollpension beträgt übrigens 6388,17 Mark im Monat. Fuß-, Bart- und Haarpflege sind mit etwa 100 Mark im Monat dabei vergleichsweise preiswert, allerdings auch mit keiner Kasse zu verrechnen. Die Sondenkost berechnet der Betrieb wie alle sonstigen medizinischen Handgriffe extra.

Die persönliche Wäsche müssen die Angehörigen reinigen. Mutter wäscht alle zwei Tage eine volle Maschine mit Socken, Unterhosen und -hemden.

Die Pflege im Heim ist gnadenlos gut. Dem Selbstmörder, der sich vergeblich mit der Telefonschnur zu erhängen suchte, folgte Einweisung in eine psychiatrische Klinik. Danach kam er wieder heim ins Heim - eben ohne Telefon.

Vater erfreut das Pflegepersonal durch vergleichsweise rege geistige Aktivität, mit der er alle auch immer wieder erstaunt.

Mit offenen Augen entgeht ihm keine Kleinigkeit. Manchmal kommen Worte und Sätze wie aus einer anderen Welt. Unvergessen bleibt der Bericht des jüngsten Bruders:

Mutter hat ihn wie fast täglich besucht. Er funkelte sie aus bösen, blauen Augen an und stieß rauh hervor:

"Du Armleuchter!"

Mutter mußte hilflos weinend das Heim fliehen, wobei sie natürlich auch seine Schmutzwäsche sich noch aufladen mußte. Immerhin war die Verkehrsanbindung günstig.

Zwischen dem Krankenhaus und der Einweisung ins Pflegeheim hatten Mutter und der jüngste Bruder schon einmal häusliche Pflege versucht. Ein verständiger Arzt sah den vom Hirnschlag und Krankenhauskampf gezeichneten todkranken Greis, der sich seinen Kot um den Mund wischte und diagnostizierte:

"Der will ja nicht mehr! Geben Sie ihm Tee. Verhungern ist ein schöner Tod. Nach etwa einer Woche fällt er ins Koma und schläft ein. Wenn er Schmerzen bekommt, kann er Tropfen erhalten, am Ende auch Spritzen mit Morphium."

Doch Mutter konnte ihn ja nun nicht einfach verhungern lassen, sagte sie. Der Arzt kann das auch nicht, also kam er ins Heim.

Schon das Krankenhaus erinnere ich trotz der wenigen Besuchstage als Tortur. So mußte er mehrmals zum Röntgen seiner Lunge unter die Maschine. Ich schob ihn quer durch die Gänge verschiedener Häuser. Sein sterbenskranker, überempfindsamer Körper konnte gerade noch die Röntgenprozedur überstehen. Daß er dort alleine im zugigen Gang in seinem Rollbett nicht an seinem Erbrochenen erstickte, hat er vielleicht meiner tätigen Hilfe zu verdanken. Jedenfalls konnte ich ihn aufrichten und seinen Mund säubern. Weiteres Begleitpersonal war weit und breit nicht zu sehen. Seine zahlreichen Lungenröntgenbildern füllen eine Mappe.

Vaters Freude im Pflegeheim war dann eher stillerer Natur. Schmerz und Streß verhalfen seinem Leben zu seiner gewohnten Adrenalin-Produktion, mit der er schon erfolgreich seine langen Jahre gemeistert hatte.

So verging sein 90jähriger Geburtstag am 24. April im Heim. Die im Pflegeheimkaffee mit Käppi geschmückte, singende Karnevals-Versammlung von noch halbwegs transportfähigen Omas und Opas wünschte er mit der Stille seines Zimmers zu tauschen. Dort zogen nur ab und an papageienhaftartige Schreie einer wahnsinnig gewordenen Alten durch die Gänge:

"Nein, nicht, nein, nicht...."

Zu den Rollstuhlfahrten ließ er sich immer seltener anziehen. Steif und starr lag er auf seiner Wechselluftmatraze und würdigte seine Schmutzwäsche holende Frau nicht einmal eines Blicks. Die mitgebrachten Delikatessen mußte sie immer häufiger wieder einpacken und daheim allein verzehren. Doch die harte Schule Jahrzehnter gemeinsamer Ehefolter helfen der herzensguten, alten Frau all das auch noch zu ertragen.

Anfang 1997 befreite sie eine eigene Operation eine Zeitlang von dem belastenden Pflegestreß.

Auf Mutters Schmankerln war Vater ohnehin längst nicht mehr angewiesen. Ihn nährt längst eine 3000 Mark teure Computer gesteuerte Pumpe.

Diese drückt ihm die 50 Mark teure Flasche Sondenkost in Milliliter genauen Dosierungen durch das PEG direkt in den Magen. Vaters Magenfüllung mit dem Liter Sondenkost, 1000 Milliliter also, brauchen bei einer Zufuhr von 100 Milliliter pro Stunde dann also 10 Stunden.

Wenn die Maschine leer oder der Schlauch abgerissen ist, pfeift sie laut. Nachts hat Vater die Maschine oft genug an seinem Bauchschlauch ziehend umgerissen. Davon ist sein PEG-Plastikschlauchanschluß schon so zermürbt, daß die Gefahr besteht, diese Plastikleitung erneuern zu müssen.

Uns Söhnen war es ohnehin unbegreiflich, warum die alte Dame sich in ihrer Anhänglichkeit an das lange Sterben dort klammerte. Doch wir trösteten uns damit, daß sie diese Aufgaben mit mitleidenen anderen Angehörigen dort auch ausfüllten. Sie war für ihn, war für etwas da und nutze, also nicht arbeitslos.

Wenn sie sich nur für eine Woche einmal Urlaub von dieser zumeist grauenhaften Pflicht gönnte, war das auch für uns Söhne eine Erleichterung.

Mit dem Novembervollmond 1997 reifte nun in ihr der heroische Entschluß, ihre Identifikation mit Vaters unwürdiger Lebensform zu durchbrechen, um ihm daheim sein Sterben zu gönnen. Im Heim gibt es dazu kein Chance, solange das Herz noch pumpt. Und sein die EKG-Kurven studierender Krankenhausarzt gab ihm noch fünf Jahre.

Vater hat längst seine Identifikation mit Besitz und Körper durchbrochen. Diese Erkenntns kam und kommt ihm immer noch unter Tränen.

Sein stolzer Besitz von fast einer Million hat ihn Zeit seines Lebens kalt gelassen. Ich wußte nicht einmal, daß es so viel war. Wenn Vater auf seinen ausgetreten Schlappen mit seiner alten Strickjacke zum Finanzamt ging, erzählt der Jüngste hier in Dortmund, haben sich die Beamten gewundert, wieviel der Alte zu versteuern hat.

Im Sternzeichen des Stieres geboren ist mir noch heute der Brustton seiner Überzeugung in seinem Gedichtzitat im Ohr:

"Ich steh auf meines Daches Zinnen und blicke mit erhob'nen Sinnen auf mein gesamtes Theben hin. Gestehe, daß ich glücklich bin!"

Doch dies Geständnis gelang mir fast nie. Es hindert mich nicht nur Mißgunst, die dem übermächtigen Vater nichts gönnen mag. Nein, Glück fühlte ich kaum in seiner Nähe, weder sein Glück noch meines. Daher zog es mich schon vor 25 Jahren nach Indien, einer der auszog, das Glück zu erlernen. Gruseln hatte ich zur Genüge gelernt.

Sein Glück fühle ich bis jetzt nicht, wie ich an seinem Sterbebett sitze in den Stunden der Nacht. Sein röchelnder, hüstelnder Atmen kommt nun auch vom schwächer werdenden Herzen, diagnostiziert der verständige Arzt. Er lebt jetzt von seiner Substanz, von allen Muskeln, auch vom Herzmuskel.

Der Arzt tröstet Mutter mit einer Geschichte:

"Die buddhistischen Mönche haben sich zum Sterben hingelegt, wenn sie der Gemeinschaft zur Last fielen. Sie haben drei Tage nicht gegessen, nicht getrunken. Danach waren sie tot."

Daß die Mönche sich für dieses Kunststück ein Leben lang mit Meditation und Versenkung vorbereitet haben, sollte niemand, der zu sterben gedenkt, vergessen.

Doch die Identifikation mit unseren Anschauungen läßt den Gedanken an den Tod kaum zu. Wie sollte jemand, der sich den Gedanken an eine Freundin, an einen anderen Mann in treuer Ehe verkneifen kann oder muß in häuslicher Zugewinngemeinschaft, wie soll so ein Mensch ans Sterben denken?

Wie dürfte er wagen an Leben, an Liebe zu denken, wenn er damit gesellschaftliche und soziale Stellung gefährdet?

Mag man sich daheim auslieben, auch wenn man sich da kaum ausleben kann. Hauptsache die Kasse stimmt. Und als ob es nicht Wichtigeres gäbe als Liebe und Triebe! Mag ja sein, doch Geld regiert nunmal die Welt, an die wir alle doch denken. Im Sterben verschieben sich die Werte. Doch Sterben ist kein Thema. Dabei ist der Tod schon mit der Geburt beschlossene Sache. Doch dazwischen schon der Wahrheit ins Auge sehen?

Bevor die kollektive Lebenslüge unerträglich wird, gibt es ja immer noch die Hoffnung auf ein wenig mehr Spaß und Spannung, die Hoffnung auf einen Krieg als dem Vater aller Dinge oder der Mutter aller Schlachten, wie Sadam dichtet.

Zur individuellen Entspannung halten derweil Sex and Drugs and Rock'n'Roll her - oder die Freude am Bankkonto.

Vaters Besitz verwaltet der Jüngste, der nun Vaters Vormund ist. Sicherheit und Besitz erleichtern es uns nicht gerade, unsere Identifikationen zu durchbrechen. Besitz zementiert Identifikation, Rechthaberei von Anschauung und Meinung. Haste-was-biste-was.

Bleibt zu hoffen, daß Kinder Anschauung wie Besitz übernehmen. So gehen selbst nach Kriegen und Katastrophen vergleichbare Anschauungen mit vergleichbaren Besitztümern weiter. Also alles Bestens?

Vater hat seine Zweifel. Oshos Sätze hört er Kopf schüttelnd. Tränen rollen ihm aus den Augen. Doch seinen Kopf schüttelt er unverwandt wie vor Jahren noch als er mit mehr Kraft Gurdjeffs unvergleichliches "All und Alles, eine unparteiische, objektive Kritik des Lebens" wutentbrannt fortschmiß:

"...Kundabuffer...",

"wenn ich diesen Quatsch lese, wird mir schon schecht!"

(G. I. Gurdjieff: BEELZEBUBS ERZÄHLUNGEN FÜR SEINEN ENKEL, Eine objektiv unparteiische Kritik des Lebens des Menschens, Sphinx, 3 89914 636 X, 1321 Seiten)

Heut schüttelt er also nur den Kopf mit Tränen, die aus seinen Augen tropfen, wenn er hört:

"Der Mensch ist einzigartig unter den Lebewesen in seinem Wissen um den Tod und in seinem Lachen. Und das Wunderbare ist, er kann sogar aus dem Tod etwas Neues machen: Er kann lachend sterben. Nur der Mensch kennt das Lachen; kein anderes Tier lacht. Nur der Mensch weiß um den Tod; kein anderes Tier weiß um den Tod - Tiere sterben einfach; sie sind sich des Phänomens des Todes nicht bewußt.

Der Mensch ist sich zweier Dinge bewußt, die kein Tier kennt: Das eine ist das Lachen, das andere ist der Tod. Dann ist eine neue Synthese möglich. Nur der Mensch kann lachend sterben. Er kann das Bewußtsein des Todes mit der Fähigkeit zu lachen verbinden. Und wenn ihr lachend sterben könnt - und nur dann -, werdet ihr einen gültigen Beweis dafür abliefern, daß ihr lachend gelebt habt. Der Tod ist die letzte Aussage eures ganzen Lebens - und die Schlußfolgerung, die Abschlußbemerkung. Wie ihr gelebt habt, wird euer Tod zeigen - wie ihr sterbt.

Kannst du lachend sterben? Dann warst du ein erwachsener Mensch. Wenn du weinend, klagend stirbst und dich festklammerst, dann warst du ein Kind. Du warst nicht erwachsen, du warst unreif. Wenn du weinend, klagend, dich ans Leben klammernd stirbst, zeigt das nur, daß du dem Tod ausgewichen bist und daß du alle Schmerzen, die verschiedensten Schmerzen vermieden hast."

(Heyne Bücher: OSHO, DAS BUCH DER HEILIUNG, 478 Seiten, 16,80 Mark, ISB N 3-453-08097-1, Zitat auf Seite 126)

Wir Brüder sollten verstehen, was in Vaters Leben unglücklich lief, um das Unglück seines Sterbens zu erkennen. Denn was nützt uns sein Erbe, wenn wir dies Sterben mit erben? Ist dies Sterben sein Erbe wert?

Es sind nur für den Zufälle im Leben, der die Gesetzmäßigkeiten nicht sehen will. Wer sich nicht um Bewußtsein bemüht, stirbt unbewußt, wie er lebt. Da helfen keine Millionen, auch nicht den unglücklichen Erben.

Geld, was wir nicht nützen, um uns neben der Behaglichkeit an Essen, Trinken und Wohnen zu Bewußtsein, zu mehr Bewußtsein zu fördern, bleibt tote Materie.

Wohnungen ohne Lachen, Leben, Lieben sind Särge für Halbtote. Vater kann keinen Satz mehr sagen, den wir verstehen. Ob er uns versteht, wissen wir nicht.

Daß die Existenz so seine letzten, qualvollen Jahre, Monate und Tage eingerichtet hat, ist Zufall für den nur, der die Gesetze dahinter nicht sehen kann. Wer nicht sehen will, kann nicht sehen.

Das Gesetz ist so einfach. Das Gesetz ist die Wahrheit. Die Wahrheit ist das Bewußtsein. Das Bewußtsein ist unsterblich.

Der Schmerz ist im Körper wie die Freude im Orgasmus. Das Leid ist in den Identifikationen wie die Freiheit im Nirwana. Das Bewußtsein bleibt ungetrübt von Schmerz und von Freude, von Tod und von Leben.

Das Bewußtsein richtet und wertet nicht. Das Bewußtsein ist klare Aufmerksamkeit, ohne Filter, Schranke, Grenze, ohne Nationalität, Geschlecht, Alter, ohne Zeit, ohne Raum. Das Bewußtsein ist Ewigkeit. Du siehst es selbst noch im Koma. Wie die Betrachter es sehen in dem, der im Koma liegt.

Vater kommt ins Koma, sagt der Arzt. Dann in den Tod. Sein Bewußtsein ist jetzt stärker zu fühlen als je zuvor. Er erreicht mit seinem Bewußtsein das Meine unendlich stärker, als er sein Bewußtsein mit Worten und Schlägen brüllen und toben ließ. Doch sein Bewußtsein ist so, wie er es zu entfalten verstand.

Wir sind in unserem Bewußtsein verbunden, auch wenn zwischen seinem Sterbebett und der Wohnzimmer-Couch eine Wand ist.

Wände, Grenzen, Schranken gibt es nur für Körper, nicht für das Bewußtsein. Schmerz, Leid, Hunger, Durst, Tod gibt es nur für den Körper. Das Bewußtsein bleibt selbst von tödlichen Drogen ungetrübt.

Vaters Körper verhungert nun langsam, was sein sehnlicher Wunsch und Wille ist. Das hat er mit allen Taten seit seinem dritten Schlag vom 8. 8. 1995 uns, den Pflegern, Ärzten gezeigt. Endlich haben wir ihn verstanden.

Endlich haben wir nach leidvollem, schmerzlichen Wachsen die Kraft gewonnnen, den kristallklaren Willen seines strahlenden, gesunden, ewigen Bewußtseins verstehen und erfüllen zu dürfen.

Vater dankt es mit jeder Miene, mit jedem Lächeln. Die empfindsam pflegenden Frauen, "seine" Frau, Schwester Brigitte vor allem versteht es so wunderbar. Sie arbeitet 10 Jahre lang in diesem Geschäft, vor der Heimpflege im Krankenhaus.

"Normal",

sagt sie,

"ist, daß die Menschen ins Krankenhaus kommen ... zum Schluß."

Das Wort "Sterben" vermeidet fast jeder.

Es ist so gut, daß wir Vaters wildes, zweijähriges Ringen im Pflegeheim erlebt haben. Wir haben hier daheim im Sterbehaus daher nur noch eine Befürchtung. Daß nämlich irgendein nächtlicher, unbedachter Hilferuf nach einer Pflegekraft, uns einen Notarzttrupp mit kräftigen Pflegern in die Bude holt, um Vater zur Intensivstation zu schleppen.

Daß sein Bewußtsein dazu klar, lautlos schreiend, doch kristallglas klar "NEIN" schreit, bleibt dem ärztlichen Geschäftsbetrieb doch gleichgültig. Geschäft ist mit Gefühlen nicht zu machen.

Schließlich verzeichnet der Jüngste schon für 300.000 Mark Abbuchungen für den Vater so verhaßten Überlebens-Einsatz. Doch "Überleben" ist kein Leben, für einen Junkie nicht, für Vater längst nicht!

Vater kann nichts mehr sagen. Doch wenn er sich den Kot um den Mund schmiert, daß die abgebrühte Schwester "Rabiata" würgend aus seinem Zimmer flieht, was braucht es denn dann noch mehr der Worte?

Vater ist einfach Klasse, erste Klasse. Vielleicht lese ich seinem Bewußtsein im Koma nochmal ein paar Sätze von Osho vor. Jetzt soll er nicht mehr weinen.

Ich sage ihm jetzt:

"Du bist schon ein Held! Du bist der größte Kämpfer aller Zeiten!"

Das gefällt ihm besser. Sein lächelndes Zustimmen, sein Nicken ist für uns, die Schwestern, die Pfleger, den Arzt eine wunderbare Bestätigung.

Doch wenn ich ihm zum zweiten Mal den Trost vom alten Häuptling spenden will, läßt ihn die Schmeichelei darin dann wieder weinen wie die Wahrheit von Oshos Worten.

Es ist nur die Frechheit der respektlosen Söhne, die von Väterchen als Mutters Tamagochi spotten. Väterchen ist mehr. Er ist das gleiche Bewußtsein, was in uns selber ist.

Sein Sterben hat den Sinn, uns alle wieder ein Stück wacher, bewußter zu uns selbst, zu unserer unvergänglichen Quelle, zu unserem Bewußtsein kommen zu lassen. Sterbezeit ist hohe Zeit, ist Hochzeit mit dem ewig unvergänglichen Bewußtsein.

Es ist der beste Platz, sich selbst zu erkennen: Das Bewußtsein wird von den begrenzenden Ketten, Zellen und Sehnen des Körpers frei. Der Körper unterhält sich damit, jede erdenkliche Nahrung in Scheiße zu verwandeln.

Das Bewußtsein bringt sich Dir selbst zur Erkenntnis: Du bist eins mit Dir, Deinem und aller Bewußtsein. Es gibt nur ein Licht wie es nur ein Bewußtsein gibt.

Geld ist toll. Geld ist ein wunderbarer Grundstoff für den Körper. Denn der Körper kann Geld in wunderbare, gleichsame wohlriechende Scheiße verwandeln.

Das wissen die schwarzen Schweine zu schätzen, die in Goa wonnig grunzten, wenn ein Vegetarier sich auf den Donnerbalken über ihrem offnen, schnappenden Schweinemaul hockte. Sie nährten sich begierig von der warmen Scheiße, doch nur von der der Vegetarierer.

Gleichso dient Geld uns Menschen als Werkzeug zum Erhalt. Hinter den Wonnen des Geldes, des Schlemmermahles stehen wie hinter den Schmerzen des gepeinigten, zerfallenden Körpers die Botschaften des Bewußtseins: Du bist eins mit allem, eins mit aller Freude, allem Leid. Warum aus dem einen oder andern also ein Drama machen?

Und Du lebst in der Freude, lebst in dem Leid. Doch der Schlüssel zu allem ist Dein Bewußtsein. Nein, nicht das Wort, nicht die hier plätschernden Wörter wie Reiskörner im Kochtopf Deiner Dich erhaltenden Tages-Ration Existenz, nicht die Wörter von Bewußtsein und Erkenntnis sind es, die Deine Bewußtheit und Erkenntnis prägen, es sind die Was-Weiß-Ich-Erfahrungen-von-Leben-und-Sterben, unser aller kleinen Unser-täglich-Mord-und-Totschlag-gib-uns-heute, oder wie immer Du Dein Tagwerk nennst. Bla, bla, bla.

Eigentlich schade, Vaters und unsere Lehrjahre im Pflegeheim durch seinen knochigen Hungertod abzubrechen. Denn die Zeit war ihr Geld wert!

Doch wenn er mit 91 Jahren nun endlich Herr über seinen Tod sein will, wer wären wir denn da, ihm seinen Willen zu verbiegen? Und er kriegt seinen Willen ja ohnehin - irgendwann.

Da hat die Existenz, unser Bewußtsein ja schon Erkenntnis und Einsicht mit uns selbst, mit unserem geplagten, zerschlissenen Körperkleid, das wir wie in die Altkleidersammlung geben zum Entsorgen, zurückgeben an die Existenz. Das Bewußtsein leiht sich unsern Körper als ein Gefäß.

Wen eben Worte erreichen, kommt mit seinem Bewußtsein dahinter, hinter das All-in-Allem, das Eins-in-Einem.

Die Späße am Rande des Sterbens erlösen von Spannung. Der letzte und wichtigste Schein, berichtet der Arzt, ist dann endlich der TOTENSCHEIN.

Ohne den holt kein Bestatter den Körper. Diesen Totenschein sieht Dein Bewußtsein dann als einen der letzten Witze Deines körperlichen Zerfalls. Mit Familienstammbuch, Personalausweis und TOTENSCHEIN, vom Arzt unterschrieben mit Kreuz in der Spalte "Todesursache natürlich" holt das Institut Deine verblichene Hülle. Fehlt der Schein zu Deiner Hülle, schreitet der Staatsanwalt ein. Dann verdient noch der Leichenbeschauer an Deiner Hülle, mit seiner Knochensäge Dein Brustbein aufzufräsen.

"Oh, Gottchen,"

stöhnt Mutter wieder entsetzt,

"ich hab doch gesagt, wir müssen seinen Personalausweis verlängern lassen. Ulrich, das Schreiben liegt hier schon drei Monate!",

wendet Sie sich vorwurfswoll an den Jüngsten. Doch der ist nicht aufs Maul gefallen. So windet er sich aus der bösen Falle:

"Ja, stimmt",

gibt er Mutter gewandt und beruhigend Recht,

"stimmt, sonst nehmen sie ihn ja wohl garnicht zurück!"

Da muß Mutter denn doch lachen angesichts des schrumpelnd, humpelnd Todes:

"Ulrich, Du bist pietätlos!"

Sterben ist Spaß, bleibt eine undiskutable Devise. Denn erstens stirbt ja schon mal nichts, es ändert sich nur die Existensform, der Zustand des körperlich-wäßrigen Bewußtseins geht gleichsam in den gasförmig-freien Zustand über. Der Spaß dabei ist, daß Du dabei die quälenden, durchgescheuerten Körperketten Deiner stofflichen Moleküle hinter Dir lassen kannst. Du kannst befreit zur Existenz zurückfliegen.

Daher hat Vaters schwarzes, schreibendes Schaf schon den Champagner in den Kühlschrank gelegt. Denn das Heulsusen-Getue bei des alten Wracks letztem Schnaufer will Mutters Ältester in Champagner-Laune feiern.

Und ist er auch kein schwarzer Löwe in der Hunger gierigen Meute, so bleibt dem schwarzen, schreibenden Schaf unter den Löwen-Brüdern sein Lachen - hoffentlich bis und bei der eigenen Beerdigung.

Die Chancen, daß Vaters stählern-gestählter Weltkriegswille sein zähes Leben endlich erfolgreich mit unserer Teekur niederringen kann, stehen nicht einmal schlecht.

Morgen, am Freitag, kommt der gütige, weise Arzt. Wer in der Branche arbeitet wie auch Schwester Brigitte, der kann ohne zitternde Knie sterbende Körper pflegen. Wie weise sorgt der Doktor vor:

"Wenn er zwischen Mitternacht und Morgen stirbt, brauchen Sie garnichts machen. Es reicht, wenn sie mir das auf den Anrufbeantworter in der Praxis sprechen."

Wenn nur Musik im Haus wäre! Eine Melodie von Marilyn Monroe gehaucht, wäre dabei angebracht:

"Happy Birthday to You, Happy Birthday to You! Happy Birthday... dear President ... happy Birthday to You!"

Schließlich ist Väterchen ja Präsident, immerhin Vizepräsident, was Georg Kreisler einem Neugeborenen als Wunsch in einem seiner erbaulichen "Everblack"-Liedchen mitgibt.

Und daß Schwester Brigitte heute sogar erstmals nach seiner 10tägigen Fastenkur einen schwarzen Köttel als Erfolg in seiner Windel verbuchen kann, läßt hoffen. Vielleicht gibt er doch noch "o scheene Loich" ab, wie die Wiener dies so kultvoll zelebrieren.

Jedenfalls hat der Rasierapparat bis an Ende seiner Leistungsfähigkeit in den geschickten Händen von Schwester Brigitte, den alten Vater schön gemacht. Er achtet auf sich, wie sein geduldig gerecktes Kinn unter dem ziependen Rasierer beweist.

Vater, Du hast mich erzogen. Also geizt Dein Ältestester mit Deinem letzten Rasierer: 19,90 Mark bei Brinkmann. Dabei lockte ALDI mit einem leistungsfähigeren Sonderangebot für 69,90 Mark.

Aber jetzt, wo Mutter 30.000 Mark überwiesen hat, kann Dein geiziger Ältester vielleicht sogar noch einen zweiten Rasierer Dir kaufen. Ach lieber nicht, lohnt nicht. Doch weil ich Geld nicht wunderbar zu vermehren verstehe, was mir das Minderwertigkeitsgefühl gibt, damit nicht umgehen zu können, frage ich lieber bei Mutter nach, ob es in Ordnung ist, wenn ich meiner Tochter Esther gleich mal 10 Prozent weiter gebe.

"Geschenkt ist geschenkt",

meint sie und bestätigt, daß das in Ordnung sei. Und so habe ich als Vater gleich schon mal wieder das Weihnachtsgeld für meine Tochter-Göre gespart.

Jetzt verdrehst Du, alter Vater, schon die matten Augenlider. Sie öffnen sich kaum noch für Deinen frechen Rotzlümmel, der die Mädchen nicht in Ruhe lassen kann noch will.

Schwester Sandra hat heut Mittag nochmals frisch Bart geschabt an Deiner alten, runzligen Schildkröten-Pelle. Deine Windel war sauber. Du hattest nur das Schlitzkompressen-Pfaster von Deinem Harnröhren-Schlauch gepult.

"Es hat ihn gejuckt",

nimmt Dich Dein frecher Rotzlümmel in Schutz. Als Schwester Sandra dann geht und flötet

"Es geht ihm ja gut!",

gibt sie damit Mut, Kraft und Halt.

Es ist absolut richtig, Vater endlich so friedlich gehen zu lassen. Im Schlaf, der nun zu seinem Letzten wird oder werden kann, liegt soviel Friede und Würde. Es tanzt in mir mit ihm.

Mutter schimpft zwar:

"Erhard, was soll der Champagner im Kühlschrank? Daß Du nicht so pietätlos bist, den aufzumachen."

"Mutter, ich mache die Dinge auf meine Art und Du auf Deine. Und ich kann es nicht ertragen, daß Du mir nun bald mit 50 Jahren noch immer in meine Dinge reinredest. Ich rede Dir doch auch nicht in Deine Dinge rein!"

Natürlich gibt es dann keinen Champagner, wenn sie es denn verbietet. Aber von der Festtagslaune scheint sie sich auch ein wenig anstecken zu lassen. Natürlich bleiben die Zweifel, ihr wie mir:

"Weiß man es denn?"

"Geh zu ihm Mutter, sprich mit ihm, frag ihn,"

empfehle ich. Und ich bewundere seinen Frieden, seine Häuptlingswürde und bin mit ihm so stolz, ihn auf seinem Heldengang in die ewigen Jagdgründe begleiten zu dürfen, begleitet zu haben ein so winziges, wichtiges Stück, am Ende seiner Tage.

Ob die Existenz oder das Ego so zu und aus uns spricht, will man mit Mutter fragen:

"Weiß man es denn?"

Es gibt nichts zu wissen, außer in sich selber. Wer da genug weiß in sich, kann sterben wie Häuptling Heinz. Geboren am 24. April 1906, gestorben am Freitag, den 21. November, morgen also.

(Nachtrag am Samstag, den 22. November: Satz mit "X", war wohl nix!)

Auf der Karte an meine Tochter Esther habe ich mir nur etwas mehr Reggae-Musik gewünscht, wenn es soweit ist mit mir.

Und das gute Tantchen Isolde, Mutters Schwester schickt Vaters Bild unterm Tannenbaum mit ihrer Schönschrift:

"Das Gute,

das Heinz

an uns allen getan hat,

bleibt

unvergessen."

Weiter steht dort:

"Heinz hat Dir so oft wie im ganzen Leben nicht - nach Deinen Worten - die Hand gedrückt. Sein Bedürfnis: Dank und Vergebung zu bekunden. Dank für Deine Liebe und Treue, Deinen Einsatz und Deine Wärme. Er hat das zeigen wollen. Bewahre diese Dankbarkeit in Deinem Herzen.

Vor ein paare Tagen träumte ich: Heinz und ich gingen zusammen spazieren, es regnete, einer von uns beiden spannte den Schirm auf, wir waren vereint, unbeschwert, fast freundschaftlich verbunden. Ich zeigte ihm eine strahlendweiße Kirschblüte. Als ich wach wurde, wußte ich, daß er bald nicht mehr unter uns sein würde. Jeder muß um Vergebung bitten, bevor wir heimkehren.

In Liebe

Deine Schwester"

Das uns umfassende Bewußtsein sendet seine Botschaften aus. Wer hin hört, hört.

In dem Maß, wie sich Väterchen in die zufriedene, friedliche Unendlichkeit seines wohlverdienten Todes auflöst, verliert Mütterchen ihre Schutzbedürftigkeit.

Sie glaubt, nunmehr den Kampf gewonnen zu haben. Ihre 77jährigen Werte, die sie leise schimpfend einige Tage bei sich halten konnte, kehren wieder offen vor:

"Du kannst jetzt für zwei Tage nach Aachen fahren, dann habe ich auch wieder etwas Ruhe."

Es beunruhigt sie, daß diese Tage dokumentiert in dieser PSION-"Schreibmaschine" landen, es beunruhigt sie, daß an ihrer gesellschaftlichen Maske ein glücklich grinsender Frechling von Rotzlümmel Sohn rüttelt, daß die unverschämt, kriechende Langzeit von Vaters Sterben alle zementierten Identifikationen erschüttert.

Wenn die Putzfrau das Wohnzimmer, das mein 11tägiges "Abenteuer-Urlaubslager" hier mit Zeitungen und Schmutzwäsche verschandelt, nicht betreten darf, maunzt Mütterchen:

"Du fährst dann für ein paar Tage erstmal, dann kann die Frau kommen und hier sauber machen."

Daß wir die Schnellkochplatte von ihrem 25 Jahr alten Herd dadurch zerstört haben sollen, daß darauf Wasser im Kessel verkocht sein soll, zeigt ein weiteres Mal ihre steigende Unzufriedenheit mit unserer Sterbebegleitung. Vielleicht braucht sie uns nicht mehr.

Hilfe zu brauchen, kränkt das EGO. Es meint, Leben und Sterben allein zu schaffen. Das Sterben mag in seiner beschissenen Jämmerlichkeit dann zwar noch mehr hinter den Mauern aus Scham und Schweigen verschwinden als schon das Leben, doch immerhin geht alles seinen geregelten Gang, bleibt alles im Griff. Sogar das Leid am End bleibt erträglich, erträglicher und gewohnter als Lachen, Liebe, Feiern, Frohsinn.

"Für Dich ist das alles ein großes Theater hier, in dem Du Dich als Retter fühlst!"

schimpft Mütterchen vorwurfsvoll und hängt unter dem Grinsen meines Bruders an:

"Und stier nicht so, das habe ich gestern schon gesagt, daß ich das nicht leiden kann."

Gestern schon erfuhr sie dann, daß das eben ihr Problem sei.

Doch wenn sie die Grenzen ihrer abgesteckten, seelischen Landschaften bedroht fühlt, kann ich mich auch zurückziehen, beleidigt, enttäuschtes EGO spielend.

Vaters Todesangst, seine knochige Hand in der Meinen, wenn ihn Schwester Nadine abends wickelt und auf die ungewohte Seite dreht, seine sterbend nach oben wegkippenden Augen-Blicke unter den sich schließenden Lidern, sein Lächeln immer wieder dazwischen schon aus seiner neuer Welt beglücken mich. Ich kann kaum verstehen, warum Bruder und Mutter diese letzten Augenblicke seiner verlöschenden Aktivität bei ihrem Küchengespräch vermissen können. Aber es geht mich nichts an.

Ich wäre gerne bei Vaters letztem Schnaufer dabei, der jetzt jeden Augenglick zu erwarten ist. Der Friede des Sterbenden, wenn ein zärtlicher Händedruck ihm die kurzen Anflüge von Todesangst verwischen hilft, der Friede und das Glück des Sterbenden übersteigen alles, was ich als Sohn lebend je von ihm erfahren habe.

Wir sind in diesem Sterben ein Stück gewachsen. Wir können jetzt mit lächelnd uns küssenden Liebesblicken in ungeahntem Glück, Frieden und Einverständnis voneinander Abschied nehmen. Was jetzt mit den Lebenden an Kämpfchen im alten Stil weitergeht, wohlgeübte 50jährige Mutter-Sohn Dressur-Rituale, Bruder-Bruder wer-ist-der-Größte?-Hahnenkämpfchen, Lächerlichkeiten, nicht der Rede, des Papiers, des Speicherplatzes auf Datenträger wert.

Wenn die Grenzen des EGOs in unserer Verzweiflung keinen Ausweg mehr weisen, wenn unsere Idendifikationen mit Körper, Gesundheit und Besitz brechen, mag der Ruf nach Hilfe schreien. Aus tiefer Not schrei ich zu DIR. Dann mag die Weisheit der Existenz den Boden fruchtbar finden für ein Saatkorn jener Unendlichkeit, an deren Schwelle Vater sterbend jetzt den Fruchtnektar seiner gereiften Lebensfrucht im Verlöschen kostet. Blabla geht weiter so.

Daß wir immer, alle und immer, von diesem Nektar der Ewigkeit trunken taumelnd in Seligkeit schwelgen könnten, bleibt die Vision von Wanderern, die auf dem Weg sind hinaus über die beschränkenden Grenzen der kleinlichen EGO-Kämpfchen, der alltäglichen Lächerlichkeiten, die ernst zu nehmen eine kindische Gesellschaft den Kinder lehrt.

Die Rasselchen von Besitz, Familie, Nation, mit denen die Kleinkinder-Greise in ihren Sandkästen klappern bis ihnen der Tod die schreckliche Erkenntnis vertaner Zeit blitzartig aufleuchten läßt, bevor die Kleinkinder sich als neue Baby-Greise inkarnieren, um wieder ein Leben lang nicht aus ihrer Windelscheiße von Gedanken, Gefühlen und heldenhaft gehaltenen Taten hinauswachsen zu können, dieser Reigen wiederholt sich von Eiszeit zu Eiszeit in den Neandertallöchern moderner Klinker-Platten-oder-Zeltplanen-Bauten.

Und wer sein Leiden eben noch nicht satt ist, leidet weiter. Und nennt sich weinkrampf-lächelnd "NORMAL"!

Normal? Nein danke! Blabla am Ende.

Da packt der Wanderer, Mutters ältester Sohn, die knappen Reisekoffer, um sich wieder den Lebenden zuzuwenden, um Quartier beim alten Sangesfreund und Bruder Harald in Aachen zu nehmen, der im Denken und Fühlen so ähnlich ist wie keiner sonst.

Doch Mütterchen kommt morgens versöhnt nach meiner Meditation:

"Quatsch, Du bleibst doch. Wir haben uns nur ausgesprochen. Natürlich kannst Du gern bleiben."

Also bleibst Du, um wieder diesen unglaublichen Stolz und diese Würde des Sterbenden zu feiern, wenn Schwester Brigitte ihre flinken, geschickten Morgenverrichtungen macht: Windel, Unterlage, Schlitzkompressen-Verbände seiner Schlauchtee-Zu- und Harnableitung wechseln, waschen, cremen, massieren, rasieren, kämmen. Mutter ölt ihm sein Haupt. Stolz legt sich der alte Häuptling zufrieden zurück in sein Kissen.

"Glücklich?",

willst Du wissen. Er zuckt mit keiner Miene und versinkt wieder in seinem Traumland des Friedens, in dem er bald für immer ist.

Diese stillen Stunden des Abschieds sind von einer nie erlebten Zweisamkeit, wie die geheimnissvollen Vater-Sohn-Beziehungen oft schon die seltsamsten Botschaften sandten.

So erlitt ich meinen ersten Lungenriß 1983 an des Alten Geburtstag, am 24. April. Der Sterbende wiederum erlitt seinen schwersten, dritten und letzten Hirnschlag am 8. August '95, 10 Jahre auf den Tag genau nach meinem zweiten Lungenriß.

Szenen unglaublicher Skurilität entspannen die Sterbeszene. Die kleine Schwester Sandra kommt nach 15tägiger Arbeit ohne Unterbrechung mittags recht angespannt. Morgen, am Samstag, geht sie dann fünf Tage in Urlaub. Doch hier und heute haut sie auf Vaters Kissen, daß er sich empört umdreht.

"Die ist aber laut und frech!",

spreche ich für ihn,

"soll ich ihr mal ordentlich Bescheid sagen?"

Und er nickt zustimmend.

Oder: Mutter ißt lebhaft Salat und meinen gebratenen Tofu, erzählt fröhlich dabei und geht zum Mittagsschlaf. Uns überrascht ein lauter Ruf, daß wir erstaunt an sein Bett eilen. Sie fragt in ihrem üblichen Tonfall:

"Was ist denn, Schatzchen?"

Er macht die Lippen rund und äfft sie lautmalend nach:

"La la la, Lala?"

Dabei schaut er sie böse an. Sie kennt nach 50 Ehejahren das Spiel und empört sich:

"Das ist er ja wie immer! Das ist alles schon gut so!"


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2. Gute Nacht und Reise!

Seit dem 11.11. kämpft der alte Häuptling seinen bewundernswerten, aufrechten letzten Kampf. Die Eintragungen der Heimpflege beginnen am 12.11.

Der Berichtsbogen dokumentiert Häuptlings letzte Heldentaten: "Mi. 14.11.: Sonde diskonektiert" oder ganz in Großschrift:

"16.11. morgens: kleine Mundpflege gemacht; Patient in den Rollstuhl gesetzt (klappte sehr gut; Patient geht auch ein paar Schritte!) Sa"

Schwester Sandra setzt Ausrufungszeichen und Klammern.

Heute, Freitag, den 21. November, kam der liebenswerte Doktor noch zu seiner Abend-Visite, der zweiten.

"Ich weiß auch nicht, woher er die Kraft nimmt",

wundert er sich. Er muntert Vater auf:

"Wir machen alles, wie sie wollen, Herr Thomas."

Es ist wunderbar, mit Sterbenden letzte Worte zu wechseln. Für uns geht das Leben mit seinen lieben Nichtigkeiten weiter.

Meine Freundin Mimansa ist heile daheim in Bayern angelangt. Die Wohnung hat nach bald zwei Wochen ohne Heizung die Außentemperatur erreicht: 5 Grad.

Von der Arbeit sauge ich die Daten zu einem Artikel, der nächste Woche fertig werden muß. Montag, der 24. November ist Abgabetermin. Dabei setze ich mit unbewußter Ungeschicklichkeit Ulrichs Rechner außer Gefecht. Doch den Artikel bekomme ich über die Leitung. Meine Nerven sind ziemlich am Ende.

Denn arbeiten und Sterben gleichzeitig zu begleiten, überfordert mich. Diese letzte Begleitung kostet ganze Kraft und Konzentration. Mein geheimes Tagebuch hier muß helfen, die Zeit zu verarbeiten, zu überstehen.

"Du bist ein ganz lieber, alter Papa."

Mima am Telefon gibt von der Weisheit ihres einfühlsamen Frauenherzens wieder die rechte Anregung:

"Sag ihm: lieber alter, klapperdürrer Papa."

Und ihn über die Worte lächeln zu sehen, füllt das Herz so mit Freude, zeigt sein stolzes Einverständnis mit seinem harten, schweren, langen Weg. Er fürchtet jetzt anscheinend nur noch grobe Pflegeschwestern.

Schwester Brigitte massiert ihn so einfühlsam. Ich danke ihr dafür. Irgendwie hat Vater aber ein anderes Gefühl zu ihr. Er läßt sich kaum das Hemd von ihr wechseln, macht sich steif wie ein Brett, und rudert ihr kräftig mit den Armen entgegen. Sie erschreckt trotz 10jähriger Professionalität.

Nach langem morgendlichen Mühen notiert sie nur im Berichtsbogen:

"Fr. 21.11.: Rasur BR"

Irgendwie wundert mich das. Ich frage Mutter:

"Ich glaube, die sind sauer, daß er keine Sondenkost kriegt."

"Ja, merkst Du das jetzt erst?"

Der Doktor rät:

"Geben Sie ihm bis zu 60 Tropfen Atosil."

Die Nacht zum Samstag bricht an. Er lebt immer noch. Mutter und ich wollen nur schlafen. Da beginnt seine Geisterstunde.

Mit wild fuchtelnden Knochenhänden und rauhen Lauten dirigiert er Mutter und mich ans Bett:

"Ich glaub, er hat Angst."

"Ich glaub, ich hab auch Angst",

gebe ich hilflos zurück. Wieviele Tropfen in seinem Tee sind, könnte ich auch nicht mehr beschwören.

Mutter weint.

"Siehst Du die knallroten Flecken auf seinen Wangenknochen? Wir haben dazu Todesrosen gesagt. Glaubst Du, er stirbt jetzt?"

"Ja, das kann schon sein",

mache ich uns Mut,

"ich setze mich zu ihm".

Ich hole den CD-Walkman, lege Oshos Nadabrahma-Meditation auf und sitze still bei ihm. Meine Berichterstattung habe ich ganz schnell aufgegeben an seinem Sterbebett. Es gefällt ihm meine aufgeregte Schreibarbeit nicht. Er gibt seinem Mißfallen mit rauhen Kehllauten Ausdruck.

Nadabrahma beruhigt mich. Ihn aber nicht. Mutter kommt mit faltiger Miene und ihren schlohweißen Haaren dazu. Zu jeder Seite seines Bettes sitzen wir in verzweifelter Hilflosigkeit. Mein Kopfhörer mit den roten Schaumstoffpolstern scheint ihm unpassend zu sein. Sein Blick mit der Gestik dabei und den Tönen treffen mich so tief, daß ich die leise gongende Musik-Maschine verstört fortlege, um mich ihm ganz zuwenden und aussetzen zu können.

Vielleicht weiß mein jüngster Bruder, 7 Kilometer weiter, einen Rat. Ich rufe ihn an, um die gespenstische Geschichte von den Todesrosen mit ihm zu teilen.

"Ich würde gern kommen, aber ich liege selbst im Koma, im Rumtopf-Koma".

Ich höre seine Frau im Hintergrund:

"Ich fahr' Dich!"

Schon das Gespräch beruhigt. Gegen Halbzwölf sinke ich erschöpft in Schlaf auf meine Iso-Matte. Morgens schläft Vater endlich. Mutter sieht fertig aus:

"Bis halb Vier habe ich bei ihm gesessen!"

Ulrich klingelt schon vor dem Pfleger. Er erzählt von seinem Rumtopf-Koma, daß seine Beine wie tot lagen, aber sein Kopf hellwach arbeitete, daß ihm Vater wilde Träume geschickt und so geweckt habe:

"Warum hast Du mir nicht zum Geburtstag gratuliert?",

klang im Traum sein strenger Vorwurf. Und er gesteht uns reuig:

"Ich habe ihm am 24. April, als wir da kläglich im Heim saßen, nicht gratulieren können. Mir war einfach nicht danach, zu gratulieren. Was der für eine Kraft hat, das Versäumnis in meinen Träumen anzumahnen."

"Vielleicht sind das auch Botschaften aus Deinem Unterbewußten, Dich Unerledigtes vollenden zu lassen",

werfe ich ein,

"vielleicht hörst Du das noch in fünf Jahren in Deinen Träumen, wenn Du nicht fertig bist mit ihm!"

Mutter reicht mir Halbbruder Dieter aus Stuttgart am Telefon rein, nachdem ich Pfleger Thomas höchst konzentriert beinahe eine Stunde bei intensiver Morgenpflege helfen konnte: Laken, Windeln, Hemd neu, Waschen, Mund und Hintern säubern. Sein röchelnder Atem weht mir aus der Nähe schier unerträglich in die Nase.

Ich berichte also auch Dieter von unserm nächtlichen Kampf.

Ulrichs Frau Heike meint, als ich zu ihnen komme, um für meinen Job zu tippen:

"Dieter hat angerufen. Er sagt, daß er auf Abruf bereit steht."

"Geil",

stimme ich zu,

"soll er kommen. Kann ich in die Disco gehen."

Nach Stunden am PC für den Job rufe ich ihn an. Dieters Frau Brigitte ist dran und meldet sich mit schwacher Stimme. Ich frage aufmunternd:

"Wie geht's?",

"Ach mäßig, wie bei Euch wahrscheinlich."

"Was, wer liegt da im Sterben?"

frage ich erstaunt.

"Ähem, niemand, aber es geht nicht so gut".

"Na, dann geht's ja,"

versuche ich, sie zu trösten.

Mit Dieter geht es dann weiter in dem Stil, was wahrscheinlich schon mein Tonfall so provozieren will:

"Du willst kommen? Finde ich Klasse. Das ist nämlich 'nen Blow-Job hier!"

"Nen was?",

verwundert er sich.

"Nen Blow-Job!"

"Was ist das: nen Blow-Job? Hör mal, kannst Du nicht DEUTSCH mit mir reden?"

Sein Ton wird gereizter.

"Nen Scheiß-Job eben, verstehst Du?"

versuche ich, mich zu erklären.

Das scheint ihm zu denken zu geben, wenn ich seine Frage richtig zu deuten vermag:

"Tja, wann soll ich dann kommen?"

"Setzt Dich ins Auto, fahr los!",

dränge ich munter weiter.

"Moment, am Montag muß ich noch was erledigen",

Diese Bemerkung macht mich sprachlos. Doch nach langer Pause auf beiden Seiten, macht er weiter:

"Das könnte ich auch telefonisch",

was mir wieder rotzlümmel-frechen Auftrieb gibt:

"Ja, Telefon ist hier."

"Das weiß ich",

klingt seine geschulte Stimme mit leichtem Anflug von Verärgerung. Doch er hat wohl Zeit:

"Ich hab Euch ja gesagt, er ist zäh."

Ich berichte nochmals von unserm Nachtstreß und prognostiziere Exitus auf Totensonntag, also in 10 bis 20 Stunden vielleicht.

"Streß? Was macht er denn?"

"Na, Du kennst ihn doch. Was er immer gemacht hat in seinen pädagogischen Bemühungen: Er fuchtelt mit den Knochenhänden in der Luft, er rollt wild die Augen. Nur Du verstehst keinen Laut mehr von ihm."

Er wäre ja nicht der älteste Bruder, wenn ihm da nicht guter Rat billig wäre:

"Na, dann schimpf mal ordentlich mit ihm, daß er Ruhe geben soll!"

Und genau den Gedanken hat mir im Gespräch zuvor schon meine Freundin Mimansa versucht auszureden. Doch Dieters Blabla provoziert ihn aufs Neue:

"Ja, wirklich, hab' ich auch schon gedacht: Ich ärgere ihn, etwa so: Alter, nun kneif schon den A.... zu, daß Du und wir Ruhe haben! Vielleicht regt er sich dann auf, daß ihn sein wohlverdienter Herzinfarkt erlöst. Das Herz ist ja auch nur ein Muskel. Und er lebt davon, von der Substanz."

Pause, an der anderen Leitung. Dann kommt er wieder:

"Du redest 'nen Scheiß."

Doch er findet sogleich zum geschulten Geschäftston zurück:

"OK! Ich bespreche das dann noch hier und mit Ulrich und werde alsbald meine Entscheidung kund tun. Bei Ulrich werde ich ja wohl übernachten können."

Überschwenglich versuche ich den schlechten Eindruck, den meine bös-verzweifelten Sätze hinterlassen haben, auch in mir, zu mildern:

"Da sehe ich kein Problem. Und wenn Du gute Ratschläge hast, sind die mir natürlich auch immer hochwillkommen."

Aber er schätzt wohl meine Statements zu seinen Weisheiten wenig. Deswegen genieße ich seit ein paar Jahren immer nur in schöner Regelmäßigkeit am Valentinstag, dem 14. Februar, meinem Geburtstag, seine Stimme auf Anrufbeantworter:

"Herzlichen Blablabla..."

Aber ich will ja nicht ungerecht sein. Nachdem ich ihm im Frühjahr 150 Seiten Bericht meiner siebten Indien-Reise in den letzten 20 Jahren geschickt hatte, erinnere ich mich eines weiteren, besorgten Telefonats:

"Erhard, geht es Dir nicht gut? Bist Du krank?"

Mich überraschte die Frage. Denn wie es mir besser gehen sollte als nach fünf Wochen Poona, weiß ich wirklich nicht. Also gab ich nur erstaunt wieder:

"Mir? Mir geht es blendend! Aber was machen Deine Herz-Rhythmus-Störungen?"

"Ist schon besser",

wollte er vom Thema ablenken.

"Und was macht der Krebs Deiner Frau?"

"Da ist nichts mehr",

brach er ganz kurz und knapp unser letztes Telefonat vor nun bald 10 Monaten ab. Aber die Existenz läßt ja nicht locker, Menschen zu ihrem spirituellen Vergnügen und Wachstum, also eher Mißvergnügen, miteinander zu verwickeln.

Das Buch, ein Reiseführer für Poona, steht übrigens auf meiner Homepage: http://www.wildcat.erding.de/homepages/index.html

Mensch, erschrecke ich, bald 17.00 Uhr am Samstag. Der Chef schmeißt mich raus! Ich muß meine Tips für "WordBasic für Applikationen" bis Montag erledigen.

Wie wohl Bill Gates mal stirbt? Doch heut werde ich nicht warm mit seinem Betriebssystem. Nachdem ich die alte Windows-95-Version über Ulrichs Neue installiert habe, weil ich nicht wußte in welcher CAB-Datei sich "Hyperterm" verbirgt, dann noch den neuen "command.com" von Ulrichs Notfall-Diskette über den alten gebügelt habe, geht nun endgültig nichts mehr. Windows-95 ist über den Jordan. Nichtmal auf das CD-ROM, von dem neu zu installieren wäre, gelingt mir der Zugriff.

Dieter war mal mein Lieblingsbruder. Als Kind habe ich sehr viel von ihm lernen können. Jetzt regt er mich auf, besonders in dieser Situation, in der mich alles aufregt.

Ich verstehe mal wieder die Welt nicht mehr. Dieter war doch immer Vorzeige- und Lieblingssohn. Drei Immobilien, in Herrenberg, München, Villa mit unverbaubarem Blick am Rande eines Naturschutzgebietes in Sichtweite von Schloß Hohenentringen bei Tübingen, drei erfolgreiche Kinder mit guter Ausbildung und selbst schon Opa, warum bin ich hier dabei und nicht er?

1981 mit roten Klamotten und Bhagwan-Mala, mit wechselnden Lebensabschnitts-Gefährtinnen in den vergangen Jahren war ich doch eher immer das Sorgen- und Schreckenskind. Meine Stellungsnahmen zu Leben und Sterben fielen doch eher immer krass aus. Muß ich dafür hier nachts sitzen? Muß ich hier mein Karma abarbeiten, was die andern nicht nötig haben? Der älteste Bruder Heinz hat ohnehin die beste Entschuldigung, fern zu bleiben. Er ist tot, seit 1961 etwa. Nichts genaues weiß ich nicht. Ich jedenfalls nicht, es fehlt mir wohl die Reife für intime Familiengeheimnisse. Na, ob ich hier am Ende schlauer rauskomme, bleibt auch noch die Frage.

Ulrich beruhigt eher. Sein Haus war Freitag abend und Samstag mittag voller Gäste, alte Freunde auch von mir, Mütter mit ihren Kindern. Geschichten aus aller Welt machen die Runde. Heike, seine Frau, Gastwirttochter, bewirtet die zahlreichen Menschen und vermag, bei jedem das Gefühl zu hinterlassen, gern wieder kommen zu wollen. Als versöhnliche, liebe, praktische Frau regelt sie das Familienleben erfolgreich.

Doch in der Bierrunde ist ihm so garnicht wohl. Er scheint wirklich beunruhigt zu sein:

"Der schreibt hier alles auf. Nachher lese ich dann wohl, was ich für 'nen Arschloch bin!"

"Mensch Ulrich,"

tröstet ihn unserer gemeinsamer, alter Freund, Psychologe und sein Namensbruder Ulrich:

"Das wissen wir doch ohnehin!"

Der jüngste Sohn Max läuft in Tarn-Kampfkleidung herum. Er hat eine Postkarte heut auf den Weg geschickt, um Bundeswehrmaterial über den Ausbildungsweg als Offizier einzufordern. Als Beginn seines Ausbildungswunsches hat er das Jahr 2001 mit Kakelschrift angegeben.

Der Älteste, Jimi, bildet sich gerade zum Einzelhandelskaufmann im ersten Lehrjahr. Das Motherboard-Update seines 486er auf einen 166er-Pentium ist gerade in Arbeit. Spirituell schnüffelt er bei den Zeugen Jehovas rein.

Mein Bad im Revierpark Wischlingen gibt mir auch keine Ruhe. Dabei wäre der Paradies-Abend bis Mitternacht so herrlich, wenn die Gedanken zur Ruhe kämen.

Doch ich denke, daß Vater seine drei Söhne von den Vieren, die er groß gezogen hat, doch gern zum Abschied nochmal bei sich hätte. Ich denke, daß das auch für Dieter gut wäre. Ich denke, daß das eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Ich denke zuviel.

So renne ich unruhig schon nach zwei Stunden aus dem Bad. Meine liebe Freundin Mimansa, das Erdferkel, gibt ihrem Walroß telefonisch Kraft, Lachen und Zuversicht.

Vater ist ruhiger und wieder schwächer als in der letzten Nacht. Seine Augen sind kleine Schlitze. Sein Mund japst schluckend nach Luft.

Bei der Abendpflege hat mir Pfleger Thomas II gezeigt, wie ich 50 Milliliter Tramal-Spritzen aufbreche, auf Nadel ziehe, und dann ohne Nadel einfach in seinen Bauchanschluß leite. Der Spritzenkopf paßt exakt in den Dreiweghahn. Du mußt nur den Schalter in Fließrichtung drehen. Gegen 22.30 Uhr gebe ich ihm auf diese Art eine zweite Spritze.

Seine Hände sind schon sehr, sehr kalt. Sein dauernder Schluckauf wird stiller und stiller.

Gegen 23.00 Uhr ist ziemlich Ruhe. Für Bewegungen oder Schreie ist er, denke ich, auch schon zu schwach.

Heute Morgen haben wir, Pfleger Thomas I, sein Bett nochmal neu bezogen. Ich habe ein schönes, langärmeliges Hemd ausgesucht. Mittags hat Schwester Nadine noch reizend mit ihm geflirtet:

"So, Herr Thomas, jetzt sind sie fertig. Bis Morgen mittag, dann quäl ich sie wieder ein bißchen."

Und beide haben in stillem Einverständnis einander sich angelächelt. Bis morgen mittag also. Totensonntag, HIGH NOON... Gute Reise, alter, klapperdürrer, lieber Vater mit Blasen an Deinen Fersen von Deinem langen, langen Weg, mit dicker Creme-Schicht auf Deinem wunden Popo von dem steinigen Wüstenritt durchs Heim, mit verschwindendem Atmen und Schluckauf, gute, gute Reise. Bist ein lieber, lieber, alter, spindeldürrer Papa. Ruhe in Frieden.

Mitternacht. Die quadratische Wohnzimmeruhr tickt beständig weiter. Alle Türen in der Wohnung stehen offen. Letztes leises Schluckes höre ich noch aus dem Sterbeschlafzimmer. Das Ende ist ganz, ganz nahe.

"Es ist vier Uhr in der Früh, so wach wirst Du nie,"

erklingt das Lied vom singenden Medizin-Doktor Ringsgewandl in mir. Mutters Schnarchen schwingt durch das Haus. Von Vater höre ich erst schwache Atemzüge, als ich mich ganz nah mit der Taschenlampe an sein Bett geschlichen habe.

Meinen Schlaf kann ich vergessen. Dieters Besuch hat sich erledigt. Hoffentlich bekommen wir gleich von Dr. Harbig den letzten, wichtigsten Schein. Denn den Patienten heut noch in seinem Koma zu pflegen, zerrt weiter an den zum Zerreißen gespannten Nerven. Doch der Existenz bleibt das gleichgültig.

Die Finger zittern schon knochig über die winzige Schreib-Tastatur der Psion-Schreibmaschine. Warte, bald kommt der Knochenmann auch zu Dir, schreibt es sich hier.

Alte Leute verstehen die Technik auch, wie Mutters Frage vorgestern zeigt:

"Ist das eine Schreibmaschine?"

"Ja, auch, und ein Kalender und ein Adreßbuch, ein Computer eben."

"Und wo bleiben die Buchstaben, die Du da reinschreibst?"

"Die liegen als elektrische Signale darin auf einem elektronischen Speicher herum."

"Und wie kommen sie da wieder raus?"

"Ich übertrage die Signale an einen großen Computer. Der schickt sie dann zum Drucker, der daraus Buchstaben auf Papier bannt."

"Tja, dann kann ich das lesen,"

kommentiert Mütterchen die Computerlektion verständig.

Es ist so schön, etwas erklären zu dürfen. Denn mit jeder Erklärung verstehst Du Deinen eigenen Verstand ein wenig besser. Beide Brüder lehren. Der Sterbende daheim gibt eine Lektion zum Leben. Das ist eine tötliche Krankheit, die durch Geschlechtsverkehr übertragen wird. Bei uns Brüdern war das jedenfalls noch so.

Auf künstliche Befruchtung konnte Kriegs- und Nachkriegs-Deutschland wohl weitgehend verzichten. Uns groß zu füttern, mühten sich unsere Alten. Uns meist bösen Brüderbuben versorgten Vater und Mutter, Dieter und Heinz noch ihre Stiefmutter-Mutter.

Mutters Liebe bewahrt den verkrachten Familienladen bis heute davor, auseinander zu fliegen. Beim milden Licht einer Kerze betrachtet, paßt es schon alles.

Meditation wäre wie Musik im Leben wie im Sterben hilfreich. Doch beides muß nicht sein, obgleich beides immer da ist. In den Ohren klingen hier gleich zwei Zeitmeß-Maschinen. Der kleine Bruder von der quadratischen, schwarzen Wanduhr hängt an der Wand gegenüber. Er tickt, um Tag-Nacht die Heizung zu schalten.

In jeder Brust tickt ein Herz, was auch Dein Atmen mit antreibt. Also meditiert Dich schon diese Symphonie Deines Lebens ins Grab.

Das 1000fach Gong-Gebrabbel meiner stillen Nadabrahma-CD hätte ich also garnicht haben müssen. Doch es hat mir 1000fach in nachtschwarzen Ängsten oft zu stiller Atem-Stunde verholfen. Danach sah die Welt immer anders aus.

Doch wenn die CD jetzt am Ende der ersten Halbstunden-Phase immer hängen bleibt, tut es auch Leonard Cohens 97er Produktion "More Best of":

"Everybody knows that the boat is leaking. Everybody knows the captain lied. Everybody got this broken feeling like their father or their dog just died."

Er geistert durch meine Gedanken wie durch das Internet:

http://www.leonardcohen.com

Auch nach dieser Musik sieht die Welt immer ganz anders aus. Nach jedem Atemzug sieht die Welt immer ganz anders aus. Wie mag die Welt erst nach dem letzten Atemzug aussehen? Sie sieht aus, wie wir sie sehen.

Vater beginnt wieder einen bellenden, rhythmischen Schluck-Schrei-Kampf. Ich muß hin!

Eine Stunde stiller Meditation am Bett halfen. Als mir vom Kerzenlicht in den Händen heißes Wachs über die Finger troff, verlöschte ich es. Vater versank mit mir im Dunkel.

Durch einen langen Tunnel atmeten wir gemeinsam. Lichtbahnen an den Wänden leiteten uns weiter. Es war wie in der langen Röhrenrutsche im Schwimmbad. Alles nur Phantasie mahnt die Stimme im Dunkel in mir.

Schicke ich Vater doch Blumen über Blumen in dem stillen, sitzenden, meditierenden Wachtraum an seinem Hightech-Sterbebett mit dem "Rollce-Royce unter den Matrazen". So lobte Pfleger Thomas I Samstag morgen das Lager.

Oder vielleicht gefallen ihm ein Zug indischer Elefanten besser, die in bunte Seide gewandete Schönheiten wiegend umtanzen? Was willst Du haben, Vater? Ich schicke es Dir, phantasiere ich als musterhaft, guter Sohn.

Jetzt ist Totensonntag früh. Es dämmert. Vater hat nur wenig Flüssigkeit am Samstag erhalten. Trotz geringster Dosierung von 33 Millilitern pro Stunde schüttelte ihn beständiger Schluckauf. Ob die Pumpen von Nahrungzufuhr und Wechselluftmatraze noch arbeiten, wird immer gleichgültiger. Vaters Pumpe läßt ihn bald in Ruhe.

Er muß ein gutes Herz haben. Ein sehr, sehr gutes Herz muß ganz weich und lieb gefedert schlagen in dieser harten Nuß - ganz bis zum Schluß. Der Knochenmann hat noch Geduld mit seinem letzten Sensenschwung.

Dieter kann weiter machen. Er fährt von Stuttgart an, derweil ich nach Vaters Mittagspflege gen Nürnberg abrausche. Es reicht auch.

Ich habe versucht, so gut ich es konnte, Vaters und Mutters Willen zu erfüllen. Mutter macht einen viel entspannteren Eindruck und scherzt auch wieder:

"Das sieht Dir ähnlich: hier alles ruinieren, Herdplatte, Glühbirne, Ulrichs Computer und dann Dich aus dem Staub machen!"

Da ich von Weisheit genug habe, kann ich mir Dieters sparen. Wenn er als ehemaliger IBM-Fachmann und diplomierter Betriebswirt eine Idee hat, wie ich mit meinem geringen Grundkapital mir anstatt mit Mietzahlungen ein eigenes Rattenloch als Höhle von Walroß und Erdferkel finanzieren kann, dann würde ich gern seinen Ratschlag einholen. Aber wozu sollte er das machen?

Warum auch hierzulande seine Leben beschließen? Warum nicht seinen Reis an den Ufern des Ganges verzehren, wo es keine PEGs für Pilger gibt? Leidvoller als im Pflegeheim kann wohl niemand seinem Ende sich entgegen sehnen.

Für Ulrich war dort jeder Besuch ein Schlag in den Bauch. Und wie die Kosten sich zusaammensetzen, ist ein Schluck aus der Pulle - für den Heimbetreiber:

Pflegestufe III: 4214,76 Unterkunft & Verpflegung: 1468,78 Investitionskosten: 704,63 Gesamt: 6388,17

Die Sondennahrung kam extra. Welche Verpflegung sie für den Alten abgerechnet haben mögen, wenn er seit Monaten dort nichts mehr gegessen hat? Ulrich meint, ich könne mir ja dort Käseschnittchen für ein Jahr aus dem Kühlschrank holen.

Aber eine Beschwerde würden Angehörige niemals wagen. Wie sehr Schwester "Rabiata" den Alten trotz äußerstem Entgegenkommen aller unserer Besuche behandelt hat, konnten wir sehr wohl in ihrer Gegenwart sehen. Denn seine Mimik wurde eher klarer als vor seinem Hirnschlag. Also gilt im Heim wie überall die Devise, bloß nicht unangenehm aufzufallen.

Pfleger Thomas I macht konzentriert seine morgendliche Totensonntagspflege. Mutter erholt sich spazierend. Vor der Mittagspflege der einfühlsamen Schwester Nadine gibt es noch ein selbst gekochtes Süppchen für Mutter und mich. Die Abfahrt steht fest.

Schwester Nadine spricht mit Vater. Er läßt sich von ihr sogar ein paar winzige Schlucke Tee einflößen. Das hat bisher nur Mutter geschafft. Dann geht meine Lebensreise wieder weiter, zurück Heim.

Ich komme von Dortmund bis Lüdenscheid. Ein trauriges Lied "wenn ich nur noch einen Tag leben könnte", geistert über das Autoradio. Ich trete von 180 Stundenkilometern Höchstgeschwindigkeit so rauh wie noch nie in die Eisen, schlittere in den Rasthof Lüdenscheid ein, rufe Mutter an:

"Mutter, ..."

"Ja, was denn, hast Du was vergessen?"

"Nein, ich kann nicht heim. Ich möchte dabei bleiben!"

"Nein. Das wird mir jetzt zuviel. Dieter kommt. Fahre Du jetzt mal ruhig. Wir schaffen das schon. Da habe ich ja mehr Kraft als Du!"

"Ja, das sage ich doch immer, daß die Frauen mehr Kraft haben. Sie müssen ja auch viel mehr aushalten."

"Öhem,"

murmelt sie zustimmend.

Ich setze die Fahrt fort. Ein neues Lied geht über den Sender. "Thomas D. ist auf der Reise und hat Rückenwind". Wer sich selbst nicht kennt, wer im Wirrwarr der Ereignisse sich zu verlieren droht, versucht in allem um sich herum eine Deutung zu finden. Das Lied gibt Schwung. So paßt also alles wieder. Es ist alles in Ordnung. Der Abschied für immer war endgültig und gut.

Die Zeit reicht nicht mehr aus, die Ereignisse festzuhalten. Mein Mühen, das Bewußtsein in dem zerfallenden Körper zu verstehen, macht mich empfindsam für den Zauber in All-und-Allem. Das macht den Unterschied zum Alltagsleben aus.

Mein großer Bruder Dieter, Mister Wichtig, erfüllt nun gleichsam eine heilige Pflicht am Sterbebett. Als Parole bleibt weiterhin stehen:

"Himmlischer Friede, Glück, Reichtum und Lachen!"

Montag, der 24. November, Fürstenfeldbruck: Nach der Arbeit um 19.00 lebt er noch. Jetzt hungert der totkranke Greis schon genau zwei Wochen seinen Körper aus. Ich verstehe nicht, wie er das schafft.

Mutter fragt am Telefon:

"Wann kommst Du wieder?"

Ich freue mich darauf:

"Ja, ich arbeite ganz schnell vor, daß ich wieder kommen kann."

Dieses Schreiben ist zwar schon als Brief auf dem Weg zu den lieben Brüdern in Dortmund. Doch eine DFÜ-Verbindung bringt die Seiten schneller als die Post zu ihnen. Ein Freund und Nachbar von Ulrich hat seinen Rechner also leicht wieder in Gang setzen können.

Dienstag morgen, 8.00 Uhr früh im Job, berichten sie in Dortmund von einer ruhigen Nacht. Vor dem Wochenende brauche ich nicht zu kommen. Also reicht es, wenn ich ab dem 1. Dezember wieder Urlaub hier erhalte. Wenn der Alte bis dahin lebt, braucht er dazu jedenfalls keine stoffliche Nahrung.

Bis dahin brauche ich mich dort nicht weiter melden. Mutter meint, ich hätte mit meinem Anruf Vater erschreckt, Dieter meint ich hätte Mutter geweckt, und ich meine, sie sollen sehen, wie sie zurecht kommen.

Schließlich habe ich andere Sorgen, seitdem ich nun schon eine Nacht alleine schlafe. Derweil meine Freundin Mimansa in Bamberg ihren Weihnachtsmarkt macht, kann ich mich wohl mal wieder meinen Jäger- und Sammlerleidenschaften hingeben. Mein Traum weist klar, was fehlt: die Gespielin zur Nacht.

Na, und die erste E-Mail-Rezension läßt doch schon mal hoffen:

"From: NewEaRec@aol.com Date sent: Tue, 25 Nov 1997 03:46:11 -0500 (EST) To: et@dmv-franzis.de Subject: Re: sterbebegleitung

Hi ET,

warst gestern auf'm satsang?? Familienstellen war wieder mal echt gut- dauert nur lange, drum bin ich muede.

Habe dann gestern noch den printout deines letzten Werkes gelesen - deine schriftstellerische Potenz scheint mit jedem neuen seelischen Erleben zu steigen - vielleicht schon bald ein Fall fuer Reich-Ranicky!?!

Solln wir die Woche mal auf einen Wein weggehen? Gehst Du am Donnerstag zum CenterMeeting? Dank der geballten Praesenz erleuchteter Seelen darf man das meeting nun auch als Satsang bezeichnen, denn satsang is always and everywhere - and in the end: who is leaving satsang? And who is writing this right now? And for whom?

Mahatmas blessings. Herzlichst Ute Vimal Prem Kuhlmann"


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3. Tod & Erleuchtung, glückliche Heimkehr

Die Heimfahrt von den Eltern führte zur Freundin und Lebensabschnittsgefährtin Mimansa nach Bamnberg. Sie lebt während ihres Weihnachtsmarkts dort bei ihren langjährigen, guten Freunden, Dr Reinhald und seiner Frau Evelyn. Das jahrhunderte alte Haus an der Regnitz mit seinen drei Stockwerken entführt Dich ins deutsche Hochbarock, ins Bamberg vor 250 Jahren mit der Technik 2000.

Nach unserem Sonntagabend-Essen kann die liebe Freundin kaum begreifen, daß ich schon schlafe. Ihr zärtliches Zerren und Zupfen bringt keine Bewegung mehr in mich. Ich schaue ihr schon schlafend glücklich zu, bis sie auch Ruhe gibt.

Denn um vier geht der Wecker. Sie baut Montag morgen ihre Weihnachtsmarkt-Holzhütte auf. Mir stehen Autobahnwege Bamberg-München und fünf Arbeitstage bevor.

Die ersten Versionen von Vaters Sterbebegleitung gehen per E-Mail, Sackpost oder mit DFÜ zu Freunden und Bekannten. Von meiner jungen, lieben Freundin Vimal Prem Ute, Ma Mahatmama VIP, Lebensabschnittsgefährtin nach Eleonore, Elka, Eva-Maria, damals noch Ma Anand Saroja, jetzt mit Namen und Leitung von Scheich Nasim, war VIP Ute-Vimal also Gefährtin Nummero vier von 1985 bis zu Oshos Auszug aus seinem Körper, wo sie aus unserer gemeinsamen Hütte auszog, am 19. Januar 1990.

Danach folgte die Löwenkatze Monika, die in der Zeit unseres Zusammenlebens zuerst der Kirche den Rücken kehrte, wie ich im Herbst 1966, und später als Ma Deva Madira versuchte, von ihren Identifikationen einer jung und reich verheirateten Blondinen aus dem deutschen Edelsteinzentrum frei zu werden. Wahrscheinlich versucht sie es immer noch. Mich läßt sie derzeit derzeit nicht mitspielen bei ihrer Suche, die uns immerhin 1992 bis nach Lucknow zu Ponjaji brachte.

Das TAO-Center in München, welches 15 Jahre lang das Wachstum der Sucher begleitet, macht zu. Zum fünften Mal traf sich wöchentlich dort die kleine Gruppe derer, die wieder ein Center wollen. Die Therapeuten-Szene, deren Arbeitsplatz und nicht unwichtige Akquisitons-Stelle das Center war, ist bei dem Treffen in verschwindend geringer Zahl vertreten. Wozu auch, Geld gibt es dort nicht zu verdienen. Ich brachte vor zwei Wochen die Idee auf, dem Center für den Raum unseres Zusammentreffens Geld zu spenden. Der Brauch hat sich in die dritte Woche hinüber gerettet.

Die fromm-fundamentalistische Osho-Fraktion vertreten der indische Swami Surrendra und eine hübsche Grauhaar-Ma Raje. Swami Surrendra will nur ein Center, wo Osho drauf steht und drin ist. Es kommt ins Schwärmen, wenn er von den beiden Gründungen damals, lang, lang ist's her, erzählt. Daß er lang, lang, lang war's ihm wohl, auch in Landshut einsaß, weil seinen Finanzabwicklungen wohl nicht so ganz gesetzliche, legale Segnungen beschieden waren, das verschweigt des Sängers Höflichkeit.

Der auf CD erhältliche Pianist Swami Anuragi bemüht sich wohlwollend um Verständnis, der "erleuchtete" Swami Nataraj vermittelt zwischen den verschiedensten Energieen. Die Erleuchteten machen mittlerweile den Therapeuten ihr Geschäft streitig. Daher schimpfen die Therapeuten wie Ma Waduda:

"Was, der will erleuchtet sein? Dann geht's ja jetzt wohl bergab mit München."

Tatsache bleibt, daß jeder erleuchtet ist. Ihn daran zu erinnern, ist Satsang, Stunde der Wahrheit, Tod der uralten Identifikationen mit Leid und Lust. Das ist die einzige Therapie, die bleibt, heißt Satsang mit den Erleuchteten.

Therapeut wirst Du nach Therapie bei anderen Therapeuten, die von anderen Therapeuten ihr Handwerk einkauften. Manchmal fällt einem etwas Neues ein, der ist dann nicht einfacher Schneider von therapeutischen Kleidern, der ist dann Modeschöpfer von therapeutischen Guide-Lines. Nur die Kinder sehen, daß alle diese Kaiser der Therapie nackt und ohne Hemd darstehen.

Die "Erleuchteten" ziehen ein sehr viel simpleres Buisiness auf: Sie setzen sich hin, Du setzt Dich vor sie, und erbittest Anwort auf Deine Fragen. Souveräne Profis wie Isaac Shapiro können auf freiwillige Spenden nach ihrer Satsang-Veranstaltung warten, Swami Anand Anamo läßt vorher 20 Mark sich geben, beschimpft aber sein Publikum im Satsang, daß die Idioten jetzt noch schnell gehen und an der Kasse auch gleich ihr Geld wieder mitnehmen könnten. Bisher habe ich noch keinen gesehen, der sein Geld wieder wollte. Ich habe es nur einmal geschafft mit meiner Lüge umsonst einzudringen:

"Gezahlt? Ich hab schon gezahlt!"

Soviel zum Satsang, so wenig zum Sterben. Gemeinsam ist beiden eines: Es ist die "Stunde der Wahrheit", wie Dichter den Tod auch so treffend bejubeln. Satsang ist das Zusammensein mit und in der Wahrheit. Was könnte schöner sein für einen, der Wahrheit sucht? Was könnte schrecklicher sein für den, der in der Lüge lebt?

Ein Erleuchteter ist hilfreich beim Satsang, aber nicht notwendig. Denn auch Glauben hilft Berge versetzen. Es gibt nämlich nichts zu erkennen im Satsang. Die Wahrheit ist Teil unseres Seins. Du kannst gleichsam im Satsang nur die Lampe putzen, das Licht in Dir wieder zu sehen, gleichsam den Spiegel Deines Selbst säubern, um Dich selbst zu erkennen.

Ziel der Übung ist Freiheit. Freiheit heißt, daß Du die Ketten Deiner Identifikationen zerbrichst. So kommst Du an Deinen Kern. Dort ist Deine Wahrheit.

Daß Dir das im Tod gewiß ist, leuchtet Dir, sofern Du gutwillig mitdenkst, ein. Doch daß Dir das schon zu Lebzeiten zu gelingen vermag, dazu braucht es einfach die Dreistigkeit derer, die da jetzt sagen "ICH BIN ERLEUCHTET! Ich lebe die Wahrheit!"

Nun gut, erleuchtet oder nicht, das ist nicht die Frage. Die Frage ist, wann meine Seiten für die Zeitung fertig werden. Also setze ich mich daran. So geht es voran.

Donnerstag sitzen wir nun also in trauter Runde in des TAOs heiliger Halle, dem großen Mandir-Raum und träumen vom "neuen TAO", dem "neuen Osho-Center" oder vielleicht besser einem "freien Satsang-Forum" oder warum nicht gleich "der blauen Lagune", wie Swami Nataraj dichtet.

Doch Ma Raje will der Versammlung mit der Stimme der religiös Geschult und Ergriffenen ihre Richtung weisen.

"Ich bin seit 25 Jahren bei Osho. Ich war jetzt sieben Jahre in Poona. Ich trage jetzt ein neues Osho-Buch über Männer zusammen. Ich gehe jeden Abend in die white Robe.

Ich schlafe darin, ich langweile mich darin, weil ich manche Lectures schon auswendig kenne, ich habe meine Satoris dabei.

Doch es bleibt mein wichtigster und schönster, feierlicher Höhepunkt des Tages. Die white Robe ist wie ein Faden, der mich mit dem Leben verbindet."

Ob sich Ma Raje mit der white Robe, die Trauernde mit dem Dahinscheidenden, der Kranke mit seinem vergehenden Körper oder der Liebende mit seiner durchgebrannten Liebschaft identifiziert, das Ergebnis ist jedesmal das Gleiche: Leiden.

Der Gefühlvolle leidet dann verständig mit, andere lachen über den lebenden Witz der Leidenden.

Was ist verkehrt damit, sich auf die Seite der Lachenden zu schlagen? Hat nicht jeder von uns schon mehr als genug gelitten? Ist es nicht an der Zeit, zum Lachen aufzuwachen?

Wohl noch nicht ganz, bemerke ich, wie mir die Gruppenreaktion auf meine direkte Antwort auf Ma Rajes Einblick in ihre heiligsten Gefühle beweist:

"Ich bin nun fast zu Tränen gerührt, lieber talking stick",

wir sprechen zum Gongschwengel der Meditationsklangschale, damit wir nicht einander direkt so zusetzen,

"da hängt nun die liebe Ma gleichsam mit der letzten Faser ihres Lebens an der white robe brotherhood meditation. Und da gibt es doch Böse, die wollen ihr ihre white robe brotherhood meditation wegnehmen. Das finde ich wirklich gemein, talking stick...."

Ich kann nur allein über meinen Witz lachen. Die andern blasen empört Luft in den Raum. Die arme Ma Raje verläßt den heiligen Mandir-Meditationsraum mit wehenden Haaren. Ein gefühlvoller Swami folgt ihr auf dem Fuß. Die Gruppe ist mal wieder gesprengt. Halleluja! Gesprengt von Identifikationen, die spätestens der Tod, frühestens die Erleuchtung zerbrechen.

Nur Lebensabschnittsgefährtin, Nummer 4, mit fünf Jahren gemeinsamen Zusammenlebens nun beileibe keine schnelle Nummer, hängt ihren friesischen Grinsezahn über ihre zum Lächeln angedeutete Lippe. Ich kenne das als ihre Art zu lachen, womit sie aber andern genauso glaubhaft machen kann, daß sie das widerlich fand.

Anderntags bedauert sie am Telefon die arme Ma Raje, die nun nach so viel Jahren mit Osho nicht mehr gefunden hat. Sie hat meine Bemerkung gut aufgenommen, jedenfalls schmeichelt mir ihr Kommentar:

"Ich kenne Dich ja, es ist Deine Art, Liebe zu zeigen."

Ja, mehr fällt mir eben nicht ein.

Die Seiten werden fertig. Von Vaters Sterben weiß ich nichts Neues. Mit Anrufen wollte ich mich nicht mehr einmischen. Mich hat niemand von meiner trauernder Familie angerufen. Ich hätte auch nicht mit getrauert.

Freitag, nach der Arbeit, gewähren mir Wetter und wenig Verkehr freie Fahrt nach Nürnberg zur Tochter. Nach kurzer Erholungspause trinke ich Esthers Kräutertee, als um 18.47 Uhr am 28.11.97 der Telmi in der Westentasche grummelt.

"Ruf an! Edelgard"

Mütterchen meldet sich also wieder. Dieter hat seinen Pflegejob erstklassig gemacht. Ich muß, ich darf wieder weiter machen.

Die Samstagnacht kann ich in der Wohnung von Eva-Maria, Lebensabschnittsgefährtin Nummer 2, der Mutter meiner Tochter, ausruhen. Morgen wollen wir den Mopedmotor aus ihrem Dreirad ausbauen. Vielleicht kann ich ihn zur Werksüberholung in Osnabrück wenigstens schon mal bis Dortmund schaffen.

Der erste Simson-Händler hat keinen Platz in seiner Garage, um Esthers Versehrten-Dreirad reparieren zu können. Wir finden einen anderen tatkräftigeren Jungunternehmer aus den neuen Bundesländern mit einer stark besuchten, unscheinbaren, "freien" Tankstelle, die den Diesel für 119,9 Mark, also sensationell preiswert verkauft. Er verspricht, das Gerät zu reparieren.

Esthers Waldorf Schule, der Lehrerinnen-Arbeitsplatz ihrer Mutter und Schulplatz ihrer 12 Jahre jüngeren Halb-Schwester Marie ist einen Besuch wert. Wie diese junge Damen in Esthers Klasse glänzen und unbekümmert Bestleistung zur Schau tragen, zeigt mir der gnadenlose Konkurrenzkampf, in dem meine Tochter Esther sich bewähren muß. Anfangs verstehe ich den Sinn ihres Satzes überhaupt nicht:

"Und die blöde, aufgeblasene Tussi hat einen Punkt mehr in unserer letzten Englisch-Arbeit. Ich habe mich vielleicht geärgert!"

"Hattest Du nicht schon eine Zwei oder was? Und wegen zweier Punkte regst Du Dich auf? Das verstehe ich nicht!"

"Ein Punkt, ein Punkt - sonst wäre ich die Beste gewesen. Und guck' sie Dir doch an, wie aufgeblasen die da her stöckelt."

"Hä,"

murmele ich verzagt,

"und wie alt ist sie?"!

"17, glaub' ich, wird jetzt 18."

"Echt, 17?",

lasse ich die Zunge aus dem Maul hängen, und handle mir ihre harten Worte ein:

"Ach, Du bist blöd!"

Ihr angeblich skuriler Englischlehrer steht mit ihrer Mitschülerin Ute am Bratwurststand. Denn die Waldorf-Schule feiert Eröffnung ihres Weihnachtsbazars. Esther ist es peinlich, daß ich mit der Kamera rumstolziere, um Schnappschüsse der wundersamen Szene einzufangen. Sie geht fünf Schritt abseits von mir, obgleich sie sonst ihren humpelnden Gang immer gerne von mir abstützen läßt.

Eva-Maria, die Mutter, hat in ihrer Klasse gerade eingeschulter Frischlinge ein buntes Tafelbild gezaubert: Rehe mit Kitz in der Winterlandschaft. Ich kaufe in Evas Klasse ein Hexenhäuschen für Mutter, womit ich - begeistert von ihrem Arbeitsplatz und meiner Tochter Schule - die gute Sache unterstütze.

Esther bekommt ihre erste 500-Mark-Rate, um ihr Duo reparieren zu lassen. Das Fahrzeug wird schon 40 Jahre unverändert so gebaut. Für Gehbehinderte ist es wirklich von unverwüstlicher Einfachheit. Plastik umrahmt den Luxus, vor Wind und Wetter zu schützen. Doch in den 2300 Fahrtkilometern hat das Kind nur Ärger gehabt. Von mir abgeschleppt haben wir in wenigen Stunden die passende Werkstatt gefunden. Ohne Vaters Energie würde der E-Mail Versand über T-Online genausowenig laufen, wie überhaupt kein Computer bei ihr arbeiten würde. Die Mutter kann das eben nicht leisten, leistet sie ohnehin mehr als genug.

Die Familienszene macht einfach nur Spaß. Ich muß nervlich gut, gut beieiander sein. Denn jedes Treffen mit der raffiniert-frechen Tochter-Göre erschöpfte mich stets bisher total. Heute ist sie einmal erschöpft und muß sich nach unserer großen, aufregenden Abschleppaktion ins Bett verkriechen. Selbst ein Polizeiwagen hat die Aktion begleitet:

"Ist alles in Ordnung?"

"Ja, klar,"

"Und ihre Handzeichen?"

"Die sind für meine Tochter, daß sie weiß, wie ich fahre."

Alles ist gut, alles ist da, satt und reich bis zum Überfluß. Bertelsmann Bamberg verkauft mir noch wunderbare CD-Klassik im Antiquariat. Und Mimansas Weihnachtstand ist mit ihr und der kleinen Lettin Eeva bestens besetzt. Selbst der Marktleiter hat beim Eröffnungsrundgang mit dem Bürgermeister meine kleine Unternehmerin-Freundin gelobt.

"Frau Jaensch, Sie haben einen ganz schönen Stand wieder dieses Jahr."

Ihre Freude über das amtliche Kompliment konnte ich am Telefon so recht spüren.

So schreibe ich ein paar Sätze im Nordsee-Lokal in Bamberg und freue mich auf Mima heut nacht. Erleuchtete schreiben nie, höchstens vielleicht, wenn es ihnen in den Fingern juckt. Und es juckt mich arg voller Lebenslust, Weihnachtsfreude im wunderbaren Autobahnenland good old Germany, Heimat der lieben Mädchen und tüchtigen Handwerker und der verschrobenen Dichterknechte, -fürsten und -könige, der Wortwälzer und Schriftstelzer, der "M.d.g.Ws", der "Meister-der-geschwollene-Worte". So neidet mir Dichterfreund Haha das Prälaten-Parlando meiner piepsenden Prosa.

Dann treibt die Existenz Dich, mich, das bunte Leben in den Weihnachtsmarkt Bamberg wieder zu den Frauen in ihr buntes, duftendes Kerzen-, Duftöle- und Kinderspielzeugreich, Mimansas Weihnachtstand "Licht-&-Spiel". Der Bamberger Doktor Rainhald kommt zum Marktende mit Frau Evelyn und "Pfeife", dem Hund. Doch Mimansa muß noch mit der 1,52 Meter großen Eeva in ihre Garage, ihr Bamberger Warenlager, um die Öle für den Markt auszupreisen. Die Gewinnspanne geht ja niemanden etwas an, doch wie die Marktweiblein in der kalten Garage ihre Pizza verzehren, deren Anlieferung mein Ahnen sekundengenau spürte, wie sie ihre Kisten packen für den nächsten Tag, wie die junge Eeva, Jahrgang '71, von ihrem Studium zur Bibliotheksassistentin erzählt und ihren Reiseplänen nach der Ausbildung, das macht die Freude, den Reichtum der Existenz so knackig greifbar. Es freut die Nacht noch mehr als der Tag.

Bis die Liebe mich und Mimansa endlich in die Ruhe der Nacht entläßt, bis ihre Waren für den kommenden Tag verpackt sind, ihre kleine Mitarbeiterin Eeva in ihr Appartment nach Wildensorg chauffiert ist, bis diese winkligen Eckstraßen am Bamberger Dom vorbei mit Tempo 30 bezwungen sind und dann noch in der von Saturday Night Fever bebenden Innenstadt ein Parkplatz gefunden ist, vergehen die kostbaren Minuten und Stunden. Doch die Augenblicke sind prall vom Glückshauch lebendiger Kraft, von vorweihnachtlichem Hegen, Geld vergeben, was die Konten Ende November derer füllt, die einen Job haben.

Mimansa hat keinen mehr, nachdem ihr anderthalb Jahre Briefträgerchen auf dem postgelben Sackpostrad schon Rückenschmerzen gemacht haben, da steht Mimansa jetzt mit der jungen Eeva und der fünfjährigen Melanie, Marktfahrerin-Kollegin Gudruns und Gerds Tochter in ihrer Kerzenhütte und lacht sich freundlich ihren Tagesverdienst herein, auf einem Markt wie in 1001 Nacht, im grünen Bereich.

Dr. Reinhald freut sich über den edlen italienischen Weißwein, den mir eine Industriefirma nachsandte, die mich mit meiner 20 Jahre jüngeren Kollegin Kathrin Ende September nach Venedig führte, leider nicht entführte. Da kam der Wein nach, der im alten Haus hier an der Regnitz im Weinkeller einen besseren Platz findet als in unserer Höhle von Walroß und Erdferkel daheim.

Jetzt ist schon wieder Sonntag, der 1. Advent. Mimansa hat ihre Weihnachtsmarkthütte schon um 9.00 Uhr eröffnet. Eeva kommt aus Wildensorg auf kleinen Beinen und Füßen angetappelt. Doch wir erfahren, daß erst ab 11.00 Uhr am Sonntag geöffnet werden darf, damit des Pfarrers Kunden anstatt bei ihm und im Klingelbeutel Zeit und Geld zu verbraten, es nicht zur Glühweinbude schleppen, um dort vom heiligen Spirit ergriffen zu sein.

Die Zeit reicht also noch, um Erd- und "Zierferkel" Eeva ins Cafe am Platz zu laden, von einer fremden, neuen Welt zu schwärmen, sich von dem eingeschworenen Frauengespann mit Weintrauben füttern zu lassen, einfach zu lachen,. zu spaßen, sich des Sonntags, des Lebens, des Lachens zu freuen. Mimansa kann ihre Eifersucht so wunderbar in Glück und Lachen auflösen. Sie gibt ihrer 12 Jahre jüngeren Mitarbeiterin, Kollegin und Freundin, die uns auch schon daheim besucht hat, die mit uns schon im Satsang bei Swami Anamo saß, Tips und Tricks, ein brünstig spielendes Walroß im Zaum zu halten. Die Beiden genießen dies billigste Spiel der Existenz mit der quicklebendigen Behendigkeit von Erd- und Zierferkeln, die längst geschnuppert haben, wo sich die Trüffel unter dem modernden Erdlaub verstecken.

Die Reise zum sterbenden Vater fängt hier in Bamberg heut mit strahlender Lebens- und Liebeslust an. Das Fachwerk Balken geschmückte Dachgeschoß hat gejubelt und geklascht, gequiekt und gegrunzt unter unseren lebendigen Spielen der kurzen Nacht. Die Super-Luxus Badewanne im jahrhunderte-alten Haus in der Schimmelsgasse hat uns ganz neue Liebesfreuden eröffnet, warm und weich in der Wanne, umschmeichelt von warmer, weicher Frau, Erdferkel in ihren, in unseren Freudesträumen und -taten.

Vom Dachgeschoß aus überblicken wir die Regnitz, die sich zu sprudelnden Spielen mitten in der Stadt staut. Bis ins 14. Jahrhundert, liest Doktor Reinhald vor, reichen die Fundamente in die Zeit zurück, Schimmelsgasse, der erste Park-&-Ride Platz vor dem Eingang ins Judenghetto. Dort ließen die Reiter ihre Pferde, um ihre Wege ins Ghetto nehmen zu können.

Die bewährte, alte Tradition jahrhunderter-langer Totschlägerei liegt über den Winkeln, des weltweit üblichen Mord-&-Totschlags, der in konsequentem Denken hierzulande industriell betrieben und wissenschaftlich untermauert wurde. Andere sind nicht anders, das Leben, das Sterben, das Lieben, das Lachen, die Grundlagen sind überall gleich.

Durch die Lande zu dieseln im satt brummenden Turbo-Peugeot, die Autobahn-Hügel mit dem sich schälenden Novemberlaub zu durchgleiten, in sanften Kurven zu klassischer oder poppiger Musik durch dieses herrliche Land zu schwingen, bringt ein seltenes Gefühl hervor: Vaterlandsliebe.

Ein verbrauchtes Wort wie so viele, doch wenn ich als Väterchen Ute Vimal Prem auf ihrem friesischen Bauernhof, wo sie aufwuchs, besuchte, oder Ma Deva Madira Monika auf ihrem jahrhunderte alten Bauernhof im Hunsrück, in Idar-Oberstein be- und heimsuchte, diese Professoren-Tochter Mimansa hier in ihrem aufgeräumten Bamberger Stübchen liebte und liebe, wenn ich so als alternden Vater unsere Frauen im Lande zu lieben versuche, dann liebe ich das Land mit ihnen, was uns nährt und gestaltet, dann liebe ich das Leben. Die Worte aus den Traditionen sind verbraucht wie die Traditionen selber. Das Leben, das Lachen, das Teilen, das Geben, neue Menschen finden neue Vokabeln. Das Alte geht, der Alte stirbt. Das Leben lebt, das Neue liebt. Endlich, endlich, endlich einmal, ein Leben voll Liebe, voll Lachen mit dem höchsten Ehrenpreis, den das Leben zu vergeben vermag: ein lachendes Sterben!

Vater kann immer noch nicht loslassen vom Leben. Seit drei Wochen ist er nun ohne seine Sondensonderkost durch seinen PEG-Bauchanschlußschlauch, seit drei Wochen quält er sich mit Tee, Beruhigungstropfen, Tramadural, morphinartig, meint Doktor Reinhald, auch da gewöhne sich der Mensch dran.

Wenn Dir die Begeitung von Sterbenden oder Kranken keine Energie mehr entziehen kann, bist Du vielleicht schon auf dem richtigen Wege zur eigenen Kraft, zur eigenen Vollständigkeit.

Die dritte Ferienwoche, die ich mir für Vaters Sterben gönnen kann, erlebe ich von festlicher, weihnachtlicher Feierlichkeit mittlerweile, wie ich noch nie so versöhnt mit Land und Leuten, mit mir zu leben vermochte.

Die Advents-Kerze brennt im Rasthof Großenmoor, noch etwa 80 Kilometer vor Kassel auf meinem Eßtisch. Ich verwöhne mich mit Pfifferlingen und Vollkornspätzle am teuren Ort, wo der Diesel-Liter wieder 1,34 Mark aus dem Geldbeutel zieht.

Doch lang reicht noch der Nürnberger Billig-Diesel von der "Freien", wo Esthers Versehrtenfahrzeug, ihr DUO steht zur endlich guten Reparatur.

Den Turbo-Diesel mit seinen 90 Pferdestärken ziehe ich mit dröhnendem Volllast-Motor und 190 Stundenkilometern Tachoanzeige in totaler Entspannung im aufgeheizten Fahrgastraum über den grauen Highway unter dem grauen Novemberhimmel am letzten Novembertag, dem 1. Advent.

Die Gedanken-Bilder des Augenblicks sind nicht in Worte zu fassen, diese Fülle der Existenz, des Lebens ist ebensowenig zu beschreiben wie Vaters Sterben.

Doch die Buchstaben purzeln trotzdem in den Psion-Speicher unter meinen schnellen Zehnfinger-Tippübungstückchen, purzeln wenige Buchstaben in die magere Lesesuppe, die von der Fülle des Lebens und Sterbens jubilieren will, und sei es nur für den eigenen Gebrauch.

Wenn das Glück zuviel wird, mußt Du singen, schreiben, tanzen, hupen, Bäume ausreißen oder Mädchenfell und -speck zupfen. Diese Frauen, Orange süß extra, Rosenduft, wie immer ihre Öle heißen, die sie verkaufen, diese Frauen tanzen jubelnd im Augenblick, wenn man sie nur jubeln läßt. Was gibt es denn für Schwierigkeiten im befreiten Bewußtsein? Keine. Nichts mehr.

Nur wer hängt, woran auch immer, der leidet. Futter gibt es doch im Überfluß im herbstkahlen Land noch. Die Kühltürme der Kernkraftwerke bei Haßfurt mischen ihre Wolkenfahnen mit den Himmelswolken, Energie brennt hier nicht aus, solange wir rennen. Und wir rennen gut. Daß der Ofen nicht aus geht, können wir schaffen. Geht der Ofen uns aus, werden wir entschlafen. Was sollen wir sorgen, dazwischen, solange das Lämpchen noch glüht? Es gibt keine Sorgen für den, der frei ist von seinen Verwicklungen. Doch wer ist schon frei?

Wer sich nach Freiheit sehnt, wird sie finden. Die Gesetze sind so einfach, daß es langweilt, sie zu lesen. Nur, warum leben wir nicht ganz einfach nach den einfachen Gesetzen, wie Erdferkel das mit Zierferkel in ihrem Weihnachtsmarkthäuschen auf dem Bamberger Markt so fröhlich feiert?

Verlasse ich Bamberg mit dem Bläserkonzert der Senioren, mit Melanies Wunschbild-Foto vor ihrer Eltern Hütte, mit Mimansas Trauer, die in Lachen umschlägt, wenn ich nur schimpfe:

"Laß die Tränen, falsche Schlange!"

Und so will ich es jeder ins Poesie-Album schreiben, die sich scheidet von ihrem Liebsten - und sei es nach 50 Jahren Ehe! Genug ist genug, sagt Osho immer am Schluß seiner langen Reden, genug ist nie genug, war aber ebenso wahr für Konstantin Wecker, der die Nase nicht voll kriegen konnte von teurem Koks. Was jeder so spricht, das stimmt eben. Lassen wir es lächelnd stehen, wie es steht.

Der sterbende Vater daheim lacht mich an, lacht mit mir:

"Na, Du klapperdürrer Hungerkünstler!"

Mutter mahnt:

"Lach doch nicht so!"

Es ist wieder der trübe Ernst ins Sterbehaus eingezogen, wie das wohl so normal sein soll. Nach dem Tee trage ich meine Koffer hoch, wobei ich gleich den grünen Twingo vom Pflegedienst Hübenthal bemerke. Schwester Gieselind ist die neue Pflegekraft, die den Sterbenden, wie Mutter schon anmerkte, bestens betreut.

Ich kann mich davon überzeugen. Sie läßt Vater weitgehend die Bewegungen selber machen, die notwendig sind, um seine Windeln zu wechseln:

"So, Herr Thomas, jetzt drehen Sie sich vorsichtig auf die Seite, keine Angst, Sie fallen nicht herunter."

Mein Bruder Ulrich klingelt derweil an der Tür, ganz kurz, Mutter hätte das Signal nicht vernommen. Alles geht klar, Vater dreht sich ab zum Schlafen. Schwester Gieselind vollendet die Arbeit mit der Schrift an ihrem Berichtsbogen. Dann verabschiedet sie sich:

"So, hier ist eine neue Mappe, die alte muß ich dann mitnehmen zu unserer Auswertung im Büro."

"Halt, Schwester,"

werfe ich zaghaft ein,

"darf ich die Mappe noch eine Nacht behalten, um zu lesen, was los war die Woche?"

"Na klar, doch! Und Dank für Ihre Hilfe!"

Mutter war ganz ängstlich, ob sie denn der Schwester Geld geben dürfe.

"Na, klar, Mutter, Geld hat jeder gerne,"

bestätige ich ihr ermunternd.

"Aber",

zweifelt sie weiter,

"vielleicht sind sie dann beleidigt?"

"Beleidigt sind sie nur, Mutter",

beruhige ich sie,

"wenn es ihnen zu wenig ist."

Endlich lacht sie wieder:

"Ja, von der Seite habe ich es noch nicht gesehen!"

Bruder Ulrich ätzt mich derweil wieder mal an, wie das unter Liebenden so üblich ist, besonders üblich unter Verwandten.

"Schwester Gieselind kriegst Du dann mal zur Pflege! Hahah!"

Er meint, mich damit zu treffen, weil Schwester Gieselind stärker in den Hüften ist, wie Mutter schon mit den Händen angedeutet hat. Doch daß sie erstklassige Arbeit macht unter Mitarbeit und mit Ansprache des Sterbenden, scheint ihm vielleicht nicht so bewußt oder wichtig zu sein.

Mutter und mir ist das wichtig. Gieselind hat 17 Jahre im Krankenhaus gearbeitet und macht die häusliche Pflege erst seit dem 1. Oktober. Im Krankenhaus hat sie mit Sicherheit genug gesehen, um zu verstehen.

Mir ist wieder unwohl, aufgeregt. Die schwere Stimmung bricht wieder aus, als Mutter nach meinem Anruf zur Esther-Tochter mit Eva-Maria, ihrer Mutter spricht. Nach zwei, drei Sätzen, die sie für mich unverständlich austauschen, reicht meine tränenüberströmte Mutter schluckend den Hörer mir weiter.

"Ja, das ist ... schwere Zeit... bla, bla, wie geht's ihm denn?"

"Gut",

versuche ich die Stimmung zu wenden,

"er hat gelacht, mich wieder zu sehen!"

"Gelacht?"

"Klar",

bestärke ich ihren Zweifel,

"er lacht viel. Wenn die Schwestern ihn hier pflegen, hat er manchmal richtig Spaß."

"Ich glaub', das sieht Du wohl nicht ganz richtig."

kanzelt sie mich Lehrerinnen gemäß kurz ab.

"Doch, doch",

wehre ich mich verzweifelt,

"lies nur mein Büchlein, was Esther hat."

"Ach, das brauch' ich doch nicht,"

winkt sie gönnerhaft ab.

"Na, klar nicht",

bestätige ich sie,

"Du weißt ja ohnehin schon immer alles!"

Die kiebige Antwort dauert nun schon einige Sekunden, doch dann platzt sie aus der Hörmuschel:

"Wohl wieder ganz schön eingebildet, was? Willst Du nochmal Deine Tochter?"

"Ja, gern doch, gib' das Produkt unser Einbildung doch noch mal rüber!"

Thomasischer Ehestreit Nummer 4711. Scheidung war nach meinem Lungenriß Nummer I lebensnotwendig. Ich denke dankbar an die göttliche Mimansa, die mit unserer quiekenden, jauchzenden Vögelenergie im Totenhaus das Lachen mir erhalten half. Mütterchen hatte kaum eine Chance, ihr etwas aufzuheulen, weil es garnichts zu Heulen gibt! Höchstens wenn wir in unserer Pflege- und Fürsorgeliebe versagen, daß sich der sterbenskranke Greis noch ein Bein in den Bettgittern bricht zum Beispiel, daß wäre zum Heulen. Jeder gut geregelte Schritt weiter zum Tod ist ein Schritt weiter zum Fest.

Doch der Alte klammert sich an seine verlöschende Zeit wie der Ertrinkende an den Strohhalm. Die Berichtsakte der letzten Woche ab Montag weist sogar Befunde zum Besseren doch mehr zum Schlimmeren aus:

23.11. Pat hat schluckweise Tee getrunken, links gelagert, kleine Mundpflege

25.11. Der Arzt notiert: Abends 50 Tropfen Tramal, 30 Tropfen Atosil 19.00 Uhr Unruhe, hohe Atosilgabe bei Bedarf und doppelt angestrichen: Tagesdosis Tee 1000 ml mit 100 Tropfen Tramdura und 50 Tropfen Atosil

26.11. Pat. ist sehr schläfrig

27.11. Pat. war komplett eingekotet; Urin ist blutig; wurde auf den Rücken gelegt

28.11 früh: Urin ist blutig! Pat hat im Rollstuhl gesessen; sehr schmerzempfindlich mittags: Pat sehr müde; schläft bei allen Pflegetätigkeiten abends: Pat ist ruhiger; Nagelpflege durchgeführt; Ferse und Po o.k.

29.11. mittags: Pat hat schluckweise H2O bekommen; hat sogar "Hallo" klar und deutlich gesagt! abends: Rechts deutlich roter als sonst; Pat ist wesentlich ruhiger und nicht so verspannt

30.11. früh: Fersen sehen gut aus! Hat schluckweise Tee genommen! mittags: Pat. wollte auf dem Rücken liegen gelassen werden abends: Pat. hat gut mitgearbeitet!

Tja, hat er, ich war wieder dabei. Ich wundere mich sogar über die Fortschritte seiner Klarheit, seiner Mimik. Doch als Vater ohne Decke liegt, sehe ich, wie sein Körper weiter verfallen ist. Als ich seinen Urin ablasse, um ihn im Eimer im Klo zu entsorgen, muß ich von dem Gestank brechreizend würgen. Verzeih, Vater, ich bin nicht weiter. Es war allerdings auch eine vollkommen unnötige und überflüssige Aktion, den Inhalt seines Urinbeutels in einen Eimer abzulassen, weshalb mich ein gestandener Profi, wie Schwester Gieselinde den Ekeljob allein erledigen ließ.

Die brüderliche Liebesstimmung ist verspannt wie immer mit Ulrich. Wir beäugen einander verwundert, mit Mißtrauen, was wir wohl wieder im Schilde führen.

"Ich bin wohl der Einzige, der Dein Schreiben ohne Aggression lesen kann!"

"Klar!",

bestätige ich ihn,

"klar doch bei Deiner spirituellen Entwicklung, kein Wunder doch!"

Er sieht mich zweifelnd an, daß ich lustvoll nachlegen kann:

"Und außerdem kiffst Du genug. Das hilft, Dir offen zu leben!"

Er mißtraut mir - wie immer völlig zurecht. Ach, Brüder sind wie Frauen eine wunderbare Kraft, einander zu durchschauen. Wenn er liest, daß die Osho-Times meine Internet-Homepage mit dem freien Download-Angebot dieses Büchleins für 400 Mark gleich fünf Monate lang als Anzeige zum 15jährigen Bestehen des TAOs veröffentlichen wird, würde er sich wahrscheinlich in all seinen Äußerunngen noch nachdenklicher geben.

Wie war doch seine Telmi-Nachricht am Freitag um 20.07 Uhr zu verstehen?

"Ulrich anrufen! Ulrich anrufen!"

Ich saß gerade mit Esther beim griechischen Salat in der Kneipe bei ihr in Nürnberg, eine Ecke von ihrem Heim entfernt. Die Einheit kostete 50 Pfennig. Ich ließ also Ulrich lieber später bei Esther daheim nach unserem Essen anrufen:

"Also, Erhard, Dein Buch ist ja ganz lustig, obwohl Heike ja nicht einverstanden ist, wie Du sie siehst. Aber Dieter braucht das nicht zu lesen, weißt Du!"

"Nö, weiß ich nicht, wieso denn?"

"Ja, ich weiß ja nicht, wie weit es geht mit Deiner Wahrheitsliebe, aber mit den 30.000 Mark das soll er nicht lesen. Denn da hab' ich ihn dann ja drum beschissen!"

"Da mach Dir mal keine Sorgen, das ist doch vollkommen gleichgültig. Er hat doch wirklich genug!"

"Ja, schon, aber es würde ihm ja doch ein schlechtes Gefühl machen. Und ein schlechtes Gefühl braucht er nun doch nicht haben!"

Nein, wirklich, liebe Brüder und Schwestern, schlechte Gefühle sind nun wirklich so unnütz wie ein Hirnschlag. Deshalb sollten wir gut auf Gefühle, Gedanken und Taten achten, daß uns nichts Widriges widerfährt. Nur eins sollten wir uns stets vergegenwärtigen: Für unsere Gefühle, Gedanken und Taten ist niemand anders verantwortlich als wir selbst, eins vorausgesetzt: Wir sind uns unserer Gefühle, Gedanken und Taten bewußt.

Solange wir uns von den fremden oder bekannten Mächten der Eltern, Priester, Lehrer, Psychologen oder Therapeuten gesteuert fühlen, versuchen wir, für unsere Gefühle, Gedanken und Taten andere verantwortlich zu machen.

Und dann strudeln unsere Gefühle, Gedanken und Taten uns sogleich in den Malstrom von Qual, Marter und Leiden Christi, das uns die bösen Andern antun, wahrscheinlich die Juden, Türken, Neger, sicherlich aber der böse Nachbar, der böse Bruder Kain eben mal wieder.

Ich schreibe meine Psion-Bytes im Gasthaus Marché an Dortmunds Reinholdi-Kirche. Ich mußte raus aus dem düsteren Sterbemief, der Stimmung dort. Der weihnachtliche Rummelplatz Dortmund ist zwar auch nicht mein Geschmack, doch der helle Tisch im Marché, wo ein Student, wie ich von seinem Gespräch aufschnappe, den Boden wischt, ist o.k. Die Nacht fängt an. Ich freue mich, auf das Telefonat mit Mima-Frauchen, mein mich haltender Rockzipfel, an dem ich hänge. Mutter kann sorgenfrei daheim entspannen. Die Funkruf-Verbindung über den Telmi klappt. Sie hat es getestet, bevor ich ging.

Mimas Berichte vom Markt sind erfreulich. Sie stärkt mir den Rücken mit der gleichen Ansicht. Und wir haben ja auch zusammen die vergleichbare Schule durchlaufen, indem uns Osho im Februar '81 Sannyas gab. Nur sie hat Sehnsucht jetzt nach einer weiterführenden Schule.

"Kommt doch",

spreche ich ihr Mut zu,

"wenn Du's geschafft hast mit Deinem Markt, dann ist für Dich Poona-Erholung fällig."

Vimal-Prem-Ute-VIP meldet sich nur unter dem Anrufbeantworter aus München. Schade, so bleiben mir die Neuigkeiten vom TAO-Center-Meeting heute nachmittag noch verborgen. Doch die Forelle vom 100. Weihnachtsmarkt in Dortmund schmeckt sicher noch zur Bertelsmann-Bamberg-CD "Klassik aus Rußland". Und ohne hier "Brinkmanns"-Bier genossen zu haben, wäre es dünkelhaft nur mit Teebauch aus der Bierstadt zu fahren.

Überhaupt scheint mir ganz klar zu sein, daß den Körper des Erleuchteten selbst geräuchter Schweinsbauch erhielte, wenn denn nichts anders zu finden wäre.

Daß ich nicht erleuchtet bin oder anders zu finden wäre, zeigt mit meines Körpers Schütteln, als ich unbedacht und unbewußt das Paket aus dem Kühlschrank entnehme, das geräucherten Schweineschinken enthält. Nein, ich bin kein Moslem, ich würde vielleicht Freilauf-Schweinefleisch verzehren und messe mich nicht höher, weil ich einem fidelen Forelllein den Garaus mache zu meinem Abendmahl in Mutters Küche bei "Brinkoff's No1", nicht Brinkmanns, das war der Händler mit Vaters billiger Bartrupfmaschine.

"Fritz Brinkhoff",

steht auf den 0,33 l Flaschen "alc 5.0 % vol."

"(1848 - 1927) war der erste Braumeister der Dortmunder Union-Brauerei. Seine Biere errangen höchste internationale Auszeichnungen. Sein bestes Bier, die No. 1, verdient deshalb zu Recht das Prädikat "Allerfeinste Pils-Qualität"".

Die zweiten Anführungszeichen beenden mein Zitat, die ersten standen auf der Flasche.

Im Kopfhörer klingt Nikolai Rimsky-Korsakow (1844-1908) mit "Russische Ostern op. 36" (15'19: meint 15 Minuten, 19 Sekunden in der 9. Minute und den laufenden Sekunden... in Mutters Küche ist Festtags-Party und der Fisch ist gegessen und "unser-täglich-Mord-und-Totschlag" festlich vollzogen, gefeiert bei Brinkhoff's No.1. Und toter Brinkhoff, seit 1927 toter Brinkhoff, wie war Deine letzte Nummer, Dein Tod - als Väterchen 21 Jahre alt wurde?

Und toter Nikolai Rimsky-Korsakow, seit 1908 tot, zwei Jahre war da Väterchen alt, wie war Dein letztes Opus, Dein Tod?

Wie die Leute leben, ist doch so gleichgültig, wie die paar Mille, lieber Dieter-Bruder, die mir Uli-Bruder doch wohl unter Deinem wohlwollendsten Manager-Lächeln zuschiebt, wie die Leute leben ist so unwichtig wie ihr Besitz. Vögelt der Reiche deshalb lustvoller als wir, Erdferkel ihr Walroß beißt, als Walroß sein Erdferkel an den Schwanzhaaren zupft, bis es quiekt, das ist alles so unwichtig. Wie die Leute sterben, das zeigt ihr Leben! Aram Khatchaturian (1903-1978) trommelt und bläst zu seinem "Säbeltanz", oh diese Russen!, wie war Dein letzter Tanz, als Väterchen 72 Jahre noch jung war? Und meine erste Elka-Ehe vom 11.11.71 auch schon wieder fünf Jahre geschieden war und das Elend der zweiten Ehe begann, weshalb ich ehe-allergisch ward - wie gleichgültig ist das doch alles, wie unwichtig, wie hoppelnd holpernd die Schrift, wie gleichgültig das alles, ob Tochter Esther mit geraden Beinen wie ihre Altersgenossinnen "Hua" oder Rosalie, die nun schon wieder Kinder austragen müssen nach ihrer biologischen Uhr und Zwangsverpflichtung, die Alice Schwarzer vielleicht leugnet, aber ich bin mir nicht sicher, weil ich sie nicht kenne, und das alles so gleichgültig ist, da kann sich meine Göre Esther ihrer krummen Beine doch freuen, die sie schleppen ins Land ihres Wissens und Wollens, eine Stufe da noch hinaus, wo Müttertiere Nahrung ihrer Brut zukommen zu lassen verpflichtet sind, nach dem Mord-und-Totschlag-Gesetz der materiellen Existenz, was so in etwa das Gegenteil ist einer spirituellen Existenz. Doch auch das ist gleichgültig in Mutters Küchenfete bei der zweiten Brinkhoff's No.1 und der Klassik aus Rußland, wo mir die Kleine, wie-hieß-sie-noch? einfällt, (sie wechselte laufend ihre Namen von Ma Prem Nirmala nach der Kundalini-Session in San Diego (6000 US-$, wenn ich recht erinnere) also Nirmala mir immer mit "Du Russe!" schmeichelte, ihre kleinen Brüste in den Händen, war sie mir stets zu klein, um mit mir durch die Welt zu rennen, zu klein und zu schlampig dazu noch, und Ma Blond Mukti. Swami Sagaresh's Qual zur Erleuchtung, blond und schlank, staksig und geilgierig, Ma Blond- Begehrte, die im Massage-Salon jobt, weil die Kassiererin-Tätigkeit ihr zu blöd kam, dieser reizende West-Import von Swami Svagen, dem 78er Sannyasin, dem LKW-Fernexporteur, wo er aus der Ukraine Ma Blond Mukti importierte durch Heirat und abtrat an Swami Friesland Sagaresh, Ma Prems Vimal VIPs Traumbild von Mann als VIP halbohnmächtig, trunken sich in den Diskos er- und übergab, bevor sie denn Osho zu sich nahm, und er- und übergab sich weiterhin, und wenn sie nicht gestorben sind, er- und übergeben sie sich weiterhin Brinkhoff's No. 1, der Zweiten Flasche, in Mutters Küchenfestparty zu Vaters Sterbewoche.

Mensch, Alter, Du hast soviel geschafft, Volljurist in jüngsten Jahren, Rußland und Frankreich im Krieg als Oberstleutnant, ein Streifen unterm General, und wirst die Geheimnisse mit Dir nehmen ins Grab, weil sie Dir keiner entlocken konnte oder war alles gesagt mit Deiner Lappalie:

"Ich habe nie auf Menschen schießen müssen. Ich habe mit meiner Dienstpistole, einer Walther" weiß-der-Teufel-was-für-15er-Kaliber, "habe mit meiner Dienstpistole nur auf Krähen geschossen. Und da gab es ohnehin zuviele von."

Ich glaube ihm das sogar. Er glaubte als Beamter an den Staat, daß der ihn erhalte bis ans End' seiner Tage, wie er in Treue zu ihm hielt, diesem Staat, der sein Brot ihm zahlte, und mir zahlt Brinkhoff's No.1 in Mutters Küchenfete zu russischer Klassik zu Vater's Sterbewoche-Urlaubsbegleitung. Alter, nun hab mal Mut! Das ist doch alles nicht so schlimm! Hauptsache, Du kommst ohne Blut im Urin über den Totenfluß, den Jordan, oder Du kommst überhaupt wieder zurück zu den Lebenden und wirst noch 150 Jahre alt mit der Pension eines Vizepräsidenten einer Oberpostdirektion, B3 oder was-weiß-ich von den Beamten-Besoldungsordnungen in den Wechseln der Zeiten, wo ich mich kaum in der Arbeitslosenhilfs-Gesetzgebung auskenne im Wandel der Zeiten, überlebst uns alle steinalter Alter mit 150 Lebensjahren und sechs, siebentausend Mille pro Monat auf Deine knochige Kralle. Von mir aus, stelle ich Dir Deinen Liter Tee pro Tag etwas höher heut nacht, auf den Luxus von 24 Millilitern pro Stunde, derweil mir drei mal 0,33 Liter Brinkhoff's No.1 die Kehle runterschlappen in grunzend, saufendem Behagen in Mutters Küchenfete nach der Schnell-Fernfahrer-Mahlzeit, der flippig-flapsigen Forelle in father-was-a-rolling-stone-,-wherever-laid-his-head-was-his-home, Mensch Alter, die Disko dröhnt in München, im FAR-OUT, Oshos Lieblingswort, wie die Teenies heute maulen "geil", so Osho "FAROUT".... Mensch Alter und Ma Mukti zeigt ihren jungen Körper und wie die füllige Kleine heißt, die ich schon seit ihrer Schulmädchen Nöte bewundere, das weiß ich bis heut nicht, nur daß sie mir in der Brinkhoff's Küchenfete bei russischer Klassik durchs Hirn geistert wie Dir vielleicht Deine unerledigten Wünsche, die Dich nicht sterben lassen in Frieden, noch nicht.

André Heller, der geniale Jude wie Leonard Cohen oder wie Georg Kreisler, André Heller besingt die Alte, die sich Kirschen ins Haar flicht im Sommer, der ihr letzter war, und den sie liebte wie den ersten...

Ich kann nicht einmal den Text behalten, der so klar das Leben preist, was so wenig wert war alle Zeit, wenig wert nicht nur für Juden hierzulande, wenig wert, und ist doch das Höchste, das bißchen letzte Leben, der letzte Schluck Brinkhoff's No.1. Wenn es Dir hülfe, alter Vater, täte ich Dir Brinkhoff's No.1 in Deine computergesteuerte Nährmaschine, eine Elendserfindung des ausgehenden 20.Jahrhunderts, ersonnen von geldgeilen Jammergelehrten, wie Gurdjeff zu schimpfen nicht müde wurde in seinem unvergeßlichen "All-&-Alles, seiner objektiven und unparteiischen Kritik des Lebens", Jammergelehrten also, die Greise sowenig sterben lassen, wie sie wahrscheinlich selber wenig verstehen, zu leben, sie nicht und nicht ihre Kinder.... Doch das ist alles so gleichgültig, so total und vollkommen egal, wurscht, und aus, Vater und ich, wir wollen nach Haus!

Soll ich mir vielleicht ein wenig Tramadolor-Lösung mit dem Wirkstoff Tramdolhydrochlorid mit etwas Atosil und dem Wirkstoff Prometazinhydrochlorid ins Brinkhoff's No.1 hier mischen in der Küchenparty kurz vor Mitternacht, damit mir wohler wird? Einen Quatsch werd ich mischen, das Bier mischt schon genug Gift in die Sätze, doch auch das ist egal, was soll denn wichtig sein von uns Mensch-Fürzen im endlosen Gang der Existenz, in der schnee-sonnen-kristall-klaren Blendenden Helle von unvergänglichem Bewußtsein der liebenden Ewigkeit des pulsierenden Lichtlebens... dunkles Brinkhoff's No.1, ich saufe ab in Dir, die Finger verheddern sich auf der "QWERTZ"-Tastatur des Mini-Rechners, der schon das Kapitel 3 vollendete mit 42 KBytes bei der dritten Brinkhoff's No.1, doch das Bett fürchtet der Säufer und den Schlaf darin, weil es der Tod sein könnte, der ums Haus hier schleicht und sich vielleicht den Falschen holen könnte, mich nämlich, nicht den 91jährigen Greis, der lachend 150 wird, nachdem er mich dem Todesengel geopfert hat, oder ich mich ihm.... und Mutter macht das Spiel ohnehin nicht mit, die ist doch nicht blöd, die bleibt bei ihrem einem Glas Brinkhoff's No. 1 und verirrt sich nie in ein zweites, gar drittes, schon garnicht im Todeshaus mit dem vor der Tür die Sense wetzendem Todesmann, dem Henker der Lebenden Halbtoten, die ihn fürchten wie die Wahrheit, die unausweichliche Wahrheit, die unvergängliche, ewige, weltgleiche Wahrheit, die jeder in sich hört, der in sich hört und sich nicht mit Brinkhoff's No.1 und russischer Klassik ins Delirium flüchtet zur vierten Flasche Brinkhoff's No. 1, Fluch diesem Brinkhoff, dem Vater meiner morgigen Kopfweh, Fluch ihm, doch er ist ja schon tot, seit 1927, gerad mal 79 Jahre jung. Da war Väterchen gerade zum 49 Mal in Italiens Gatteo Mare, dem Hotel Europa, wo ich mir 1994 noch mit meiner No. 4 (oder 5, oder 6), Ma Deva Madira das Saufen abgewöhnte, das Saufen abgewöhnte, das Saufen, das Saufen, das jeden edlen Geist adelt, wie Vater gesoffen hat bis ans Ende seiner Tage und kein Schwein denkt daran, ihm Brinkhoff's No.1 in seine Computer-Amme zu schütten, kein Schwein versteht das Leben und das Sterben schon mal garnicht.

Brinkhoff's No.1, jetzt ist Mitternacht, der 1. Dezember, den Monat kann der Alte nicht mehr packen, die alte, harte Nuß knackt sich die Existenz, holen sich Erde, Feuer, Luft, Wasser wieder, holen sich die Elemente wieder, aus der denen wir kamen, krochen, flogen, gute Nacht.... es ist Zeit zu gehen, Zeit ins Bett zu gehen.

Ach, ist doch egal, es ist Urlaub und es kost' nichts, öffnen wir Brinkhoff's No.1 zum vierten Mal und vergessen die hemmende, die alles verkümmernde Scham und parlieren plaudernd munter weiter, auch wenn es weh tut, immer noch weh tot, das Gedächtnis, die Erinnerung an die quälenden Jammerärzte, die Irren in weißen Kitteln, die Elektroden im Kopf zu verschrauben 1971 nach der Reise mit Meskalin, in der alles schon klar war wie heute, klarer noch als jetzt vor Brinkhoff's vierten ersten No.1 und Gleen Goulds Gemaule zu seinen Szenen.

Scham, Swami Amano, da hast Du recht, Scham ist der Samen der Lüge, die Flucht aus der Wahrheit, Scham ist der Krebs der Seele, das Verstecken im Unbewußten, das der Nüchterne nicht erträgt, weshalb er den Rausch anfleht, die Scham zu durchbrechen, um wieder Wahrheit, das wärmende Licht der Wahrheit zu sehen.

Scham, verzweifelt Scham, Erpressung der Erziehung, Scham, das Wort für das Schönste, das Teil, den Schlüssel zur Sinnesfreude, Scham, verbreitet Zig-Tausendfach, Internet-TerraByteweise, Scham, Schranke vor dem Wissen, der Wahrheit,. Scham, laß nach, laß ab....

Was ist dabei, als junger Mann von 23 Jahren sich in die Fänge der Ärzte zu verirren, die ebensowenig wissen, was sie tun, wie sie bei Vaters Sterben wissen, was sie tuen, bis auf den Einen, dem das Geld egal ist, weil ihm die Weisheit wichtiger ist, der so alt ist wie Bruder Dieter-Wichtig, doch den Ulrich wie ich so alt schätzten wie wir selber sind, also acht, neun Jahre jünger. Dieser rare Doktor Harbig kennt Buddha, kennt Meditation und weiß das Wichtige zu scheiden vom Scheißhaus der Geldgier.

Doch die Scham der erlittenen Elektroschocks mit der Ruine eines Resthirns ohne Gedächtnis, diese Scham sei durch Geständnis getilgt, Scham ablegen, Schamlos leben und lieben, getilgt sei die elende Scham über die mißlungene Mißgeburt der schiefbeinigen Tochter mit dem klaren Verstand, klarer als Vater und Mutter in dem Dunkel ihrer Scham an Falsch-Gemacht-und-Blöd-gelaufen-und-Shit-happens, doch was soll's? Egal, vorbei, oder ist noch, wirkt noch nach, doch egal, Du änderst nichts dran, wenn Du Dich nicht änderst.

Mensch, steh' doch einfach zu Dir, und wenn Du Brinhoff's No.1 kotzen mußt, steh zu Dir, Deiner Gier, Deiner Sucht nach ein bißchen Leben, ein bißchen Liebe, ein bißchen Rock und Frauenfleisch, steh' zu Dir, schamlos, geil, offen. Du kannst Dich nicht weglügen, das kannst Du nicht, Wahrheit kann der Tod nicht weglügen, die Wahrheit kann der Tod nicht tilgen, doch Deine Scham legst Du offen als Wunde den Menschen, zeigst sie ihnen wie Maler-Künstler und Weltkriegsflieger Boys seine Leichenbahren ... und Deine Scham heilt im Lichte der Wahrheit, es ist nichts dabei.

Es ist in allen Häusern wie in Deinen, alle verstecken ihre Leichen wie in belgisch-deutschen-jüdischen Kellern, es ist immer das Gleiche. Verbrennen wir die Leichen im Keller in sonnigem Tanz, dann stinkt es weniger in den Häusern, was ist denn dabei, einander seine Morde zu gestehen?

Und wenn Du Dich als Mörder mit Wahrheit hinter Gittern besser fühlst als der elend nicht sterbende Franco nach den Zeiten schamloser Macht, schamlosen Genusses, was ist dann besser? Es ist besser, als Mörder im Knast mit reinem Gewissen zu leben und zu sterben. Doch füttert den Mörder auch in der Zelle genug, daß er jeden Tag zu lernen vermöge, die Wärter zu lehren in greisem Verständnis.

Die Welt ist eine Kugel, das Leben ein Kreis, es gibt nichts zu verlieren, nichts zu gewinnen. Die Existenz sorgt für Dich, vertrau' Deinem Leben, dem Sterben, vertrau' Brinkhoff's No.1 nach salziger Weihnachtsmarkt-Forelle! Es wird alles gut, Quatsch! Es ist längst alles gut, tot oder lebendig, es ist alles gleich, gleich gut.....

Wörter sind nichts. Wissen ist nichts. Wahrheit ist alles. Wahrheit weiß nichts.


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4. Die letzte Woche des Lebens - die Letzte?

Montag, der 1. Dezember, Welt-Aidstag heute. Welches spannende Kapitel der Wochenbeginn aufschlägt, oder ob der Tag in sonniger Herbst-Urlaubs-Ruhe vorbei plätschert, wir sind nichts und wissen nichts.

Vater hatte eine unruhige Nacht und Mutter schalt mich schlechter Kranken-Wärterdienste. Denn der Alte verknotete seine knochigen Füße in den beiden Gitterstreben des Drei-Motoren-Bettes. Und der stumme Alte kann sich dann nicht selbst befreien aus der verqueren Lage. So schimpft Mutter mit mir über meinen schlechten Pflegedienst, der sie auch nicht verwundert. Denn vier leere Flaschen Brinkhoff's No.1 standen morgens noch auf dem Küchentisch.

Soll sie schelten, die Alte! Das stärkt ihre Lebenskraft, zeigt ihren Siegeswillen. Der Alte befindet sich ohnehin auf der Zielgeraden, meine ich. Doch meine Prognosen seines Ablebens lasse ich lieber. Sie haben bisher noch nie gestimmt. Jetzt hoffe ich nur noch, daß ich ihn zu überleben vermag. Ich traue seinen magischen Greisen-Kräften nicht mehr nach Brinkhoff's Nacht der Erkenntnis. Könnte nicht neben seiner "percutanen-entro-gastronomischen" Computer-Amme eine verborgene, geheime Ader denen das Lebenselexir ablassen, die sich ihm nähern?

Pflegeschwester Ramona, vier Jahre Bundeswehr-Sanitäterin, in Ausbildung bei Schwester Anja, der Grob-Herben, Gerechten, die das Verbandspflaster abreißt, schmervoll, aber schnell, die Schwestern fliehen das Sterbehaus, doch ich sitze hier am Bett des schwer atmenden Greises, der lächelnd das Weihnachtsmarktherz noch begrüßte, auf dem weiß die Zuckergußschrift kräuselt:

"Ich liebe Dich"

Alter, klapperdürrer Hungerkünstler, 21 Tage pumpt Dir Deine Computer-Amme nun Deinen täglichen Liter Kamillentee ins Innere, wechselst Du Deine gezählten Atemzüge als letzte Kraftanstrengungen und siehst vielleicht an Deines Schlafzimmers Decke die letzten Geheimnisse, den Schlußstein im Gewölbe Deiner Erkenntnis, der Dir noch fehlt als Eintrittskarte in das Land, von dem keiner wieder kehrt.

Doch das stimmt doch auch wieder nicht. Dies Bamberg, dieser Spiegel-Titel in dieser Woche "Denk' ich an Deutschland ... zum 200. Geburtstag Rudolf Augstein über Heinrich Heine", diese alte, gewohnte Musik, die alten Gemäuer, selbst die jungen Mädchen darin sind die Alten, im Mittelalter, Barock, in Comic-Strip-Zeiten, im Indianerzelt oder Eskimo-Iglo, immer das Gleiche.

Vater, altes Dampfroß von 1906, wie schnaufst Du mit jedem Atem Deinen Lebenszug zum Zielbahnhof Friedhof. Das ist ein Gerumpel aus Deinem Lungenkasten, daß es das Glenn Gould Getöne überstimmt. Und Mutter kommt schnaufend wie üblich dazu:

"Ach, Gott jaaaa",

und die Übung dahinter scheint zu sein, einfach locker zu bleiben, zu entspannen, loszulassen. Was verklebt uns bloß so mit dem Leben?

Die Sprüche kann jeder leicht machen, doch im scharf stinkenden Sterbezimmer zu sitzen, fällt schwer. Ich schaffe es nicht heute, ihm wenigstens nur mit einer Stunde Gesellschaft nach dem fröhlichen Essen mit Mutter beizustehen.

"Die Gemüse-Burger schmecken garnicht so schlecht."

Daß die Dinger aus der Tiefkühltruhe "Börger" nicht "Burger" gesprochen werden, mag sie ja irgendwann mal lächelnd lesen. Die fremden Lychee-Früchte hat sie auch noch nie im Leben gegessen. Ein kleines Fest, jeder Tag ist ein kleines Abschiedsfest vom Leben, vom wunderbaren, zauberhaften, reichen Leben.

Es riecht entsetzlich in Vaters Sterbezimmer. Das Fenster zu öffnen, hilft auch nicht mehr. Dies Sterben ist nicht mehr schön, ist es noch feierlich? Ich muß raus, will raus, ich halte es nicht aus bei ihm.

Dortmund ist so eine herrliche, ruhige Urlaubstadt geworden. Die U-Bahn Haltestelle Markgrafenstraße nimmt Dich in ihre ruhigen Schächte auf. Mittags ist dort kein Gedränge. Wenn die letzten Stunden gezählt sind, gehst Du anders mit ihnen um. Ich nehme das Gefühl letzter Stunden mit hinaus in die Stadt und sehe gleichsam mit eines Sterbenden Augen zum letzten Mal die Schätze der Erde, die Strahlen der Sonne hinter den berggrauen Wolkenbüscheln, die funkelnden Spiegelscheiben der mächtigen Großstadt-Neubauten, höre die Schuljungen mit ihren großmäuligen Sprüchen, die wir mit 30, 40, 50 Jahren dann zur vollen Blüte entfalten.

Am Hiltropwall, wo Vater bis zu seiner Pensionierung 1971 in der "OPD", der Oberpostdirektion, gearbeitet hat, glänzen die Fassaden:

VOLKSWOHL BUND VERSICHERUNGEN

Die Sonne bestrahlt die Pracht, die sich Dir enthüllt auf dem Platz vor dem Stadttheater, wo eine Tafel an die Alteigentümer erinnern soll:

"Platz der Alten Synagoge 1900 errichtet als "Zierde der Stadt für ewige Zeiten" 1938 zerstört durch den Terror des Nazi-Regimes"

Leider konnten die Alteigentümer nicht mehr an ihren Platz zurückkehren, weil es sie vermutlich nicht mehr gab.

Doch was ist heute nur los im Land? Ärzte und Laborärzte sind ebenso auf der Anklagebank wie Steuerschuldner, die um ihre Zinsabschlagssteuer zu betrügen versuchen. "Politik in der Schuldenfalle", titelt die Süddeutsche im Wirtschaftsteil Freitag und bedauert die armen Politiker, die ein Gesetz erließen, von dem sie nicht ahnen konnten, daß sie damit Massen von gutbürgerlichen Wählern zu Vorbestraften degradierten. Wohin allerdings die 5, 6 Millionen fallen, denen kein Unternehmer mehr Arbeit gibt, ist den Politikern, die die Steuerbetrüger wählen, gleichgültig.

Gleichgültig, alles ganz gleichgültig. Die Bilder zum Büchlein sind fertig, ein Film, der im Stundentakt aus der Entwicklungsmaschine läuft. Die Bilder sollen ganz, ganz schnell zu sehen sein, damit Vater sie noch sehen kann. Ob er noch lebt, wenn ich heim komme?

Wenn die Menschen erst die Gemeinschaft um ihre Zinsabschlagsteuer betrügen müssen, die doch erst anfällt, wenn sie den Freibetrag von 6000 Mark Zinsgewinn übersteigen, dann sind sie wirklich schon bitter-bettel arm. Bei 6 Prozent Zinsen müssen die armen Menschen dann schon über 100.000 Mark auf der Bank haben. Erst dann lohnt sich der Beschiß für den Junggesellen. 100.000 tote Mark auf der Bank, es muß wirklich ein beschissenes Gefühl sein, gerade mit der Geldentwertung so schleichend zu verarmen. Bald gehöre auch ich zu diesen jämmerlichen, bemitleidenswerten Mini-Dagobert-Ducks.

Geld zu verlieren ist, ist ja nur der Anfang. Am End' verlierst Du das Leben, und was dann? Also schnell ab mit Deinen sauer verdienten Millionen im Koffer auf die lange Bank damit nach Luxemburg oder auf irgendeine Karibik-Insel, die vollgepflastert ist mit glänzend-glitzernden, hartverchromten, klimatisierten Bankpalästen.

Und die Ärzte, diese Könige über Leben und Tod, bescheißen, und alle, alle bescheißen sich selbst vor der einfachen Einsicht, daß das letzte Hemd keine Taschen hat. Und eh sie den Beschiß bemerken, liegen sie in ihren Windeln und sterben winselnd weich wie Winzlinge.

Wie einfach es ist, über diesen und anderen Unsinn sich auszupsalmodieren. Schwerer ist es, sein Sterben in Vaters Sterben mit zu erleben, mit zu erleiden. Ganz schwierig wird es dann noch, wenn Sterben noch so stinkt. Muß das eigentlich alles so sein in diesem Jahrhundert höchster technischer Vervollkommnung, in diesem Luxus von allerhöchster Qualität, der uns überall umgibt - fast all-überall?

Vater hat schluckend die Bilder betrachtet. Es quält ihn sein schüttelnder Schluckauf. Besonders lange behielt er seine eigenen Greisenbilder im Rollstuhl in seiner zitternden Hand.

Daß er klar bei Bewußtsein, zeigt er auch bei der Abendpflege von Schwester Marika:

"Haben Sie Schmerzen, Herr Thomas?"

Sein erstes und einziges Wort heute klingt klar und vernehmlich:

"Ja."

Schwester Marita gibt ihm nochmal 30 Tropfen Tramal über die Bauchkanüle. Die Tropfen verdünnt sie im Schnapsglas mit Fachinger und drückt die Mischung gekonnt in den umgeschalteten Dreiweghahn am PEG.

Den Doktor, den ich wegen des fehlenden Urins angerufen hatte, ruft gewissenhaft zurück und klärt mich über die Lage auf:

"Das Herz verliert jetzt sichtbar an Kraft. Es vermag nicht mehr die Flüssigkeiten umzupumpen, vermag also auch nicht mehr Urin auszupumpen. Es ist das Beste im Sinne ihres Vaters, wenn er jetzt schwächer wird."

Schwester Marita fragt, ob wir bei ernster, sich verschärfender Lage alles abgesprochen hätten. Ich erzähle nochmals die Geschichte, wie er sich im Heim solange an seinen Schläuchen gerissen und gequält habe, wie er hier zu Hause sei, um seinen Frieden zu finden.

"Das finde ich toll, wie Sie das machen. Das ist genau richtig so. Ich würde das auch so machen."

Ich bedanke mich, daß sie uns hilft und begleitet auf dem auch für uns nicht leichtem Weg. Ich höre Mutter noch reden mit sich selbst oder "ihrem armen Mannchen", ihre häufigste Redewendung. Im hellhörigen Haus mit der 1500 Mark teuren Miete, zwei U-Bahnstationen von der Stadtmitte, von der Fußgängerzone, klingen gespenstische Laute. Denn es ist kaum auszumachen, ob sie von des Alten letztem Kampfe stammen oder sonst woher. Doch wir sind eben total hilflos, bleiben sprachlos angesichts des Todes.

Dieter ruft an. Wir sind uns einig. Er teilt jetzt meine Prognose, mit der ich mich so oft getäuscht habe, daß der Alte jetzt gleichsam in die Zielgerade einläuft.

"Ich habe ja gleich gesagt, daß er zäh ist."

"Ist mir schon klar, Dieter, daß Du das realistischer sehen kannst als ich. Denn Du lebst eben besser in der Wirklichkeit als ich. Ich lebe mehr in meiner Phantasie."

Mit diesen gerecht verteilten Reichtümern können wir einander voll Achtung verabschieden. Die Freundin Mimansa bekommt gleich ihr gekochtes Abendessen von ihrem Gastgeber, Dr. Reinhald. Er hat die Trüffel schon gegessen, die Mutter mir mitgab. Auch die melancholischen Klänge von Leonard Cohen hat er schon gehört und bedankt sich:

"Du verwöhnst uns ja."

Ich bedanke mich, daß sie uns dies herrliche Obdach mit Blick auf den Regnitz-Fluß im Herzen Bambergs gewähren und verabschiede mich von meiner Freundin Mima zu ihrem Abendmahl, zu ihrer Nacht:

"Grüß ihn von mir, und sag, ihr sollt machen miteinander, wozu ihr Lust habt."

Das nimmt mir nichts weg und könnte ihnen was geben, denke ich mir dabei. Aber wichtig, wichtig ist das doch alles nicht. Doch wer mit einem Sterbenden lebt, verabschiedet sich anders, fühle ich. Die Lebensdichte im Dunsthauch des Todes läßt jeden Abschied, und sei's den am Telefon, einem Endgültigen gleichen. Wir denken so falsch in unseren trägen Gewohnheiten und falschen Versicherungen, denken wir nämlich, alles bliebe, wie's ist. Das Gegenteil stimmt. Daher ist dies "leise Servus" beim Abschied schon jedes Mal ein Ahnen vom Endgültigen, der letzten Wahrheit. Doch die bleibt uns leider verborgen.

Daß Mutter mein Schreiben, wie ihre Schwester Isolde ihr riet, erst lesen solle, wenn er gegangen sei, dann also auch erst mein Schreiben lesen wolle, habe ich ja anfangs ganz blauäugig wie stets immer alles sogar noch geglaubt. Isolde habe das Büchlein schon ein paar Mal gelesen. Doch daß sie es eben auch gelesen hat, merke ich ganz deutlich an ihrem stillen Einverständnis, als ich zum zweiten Mal Champagner im Kühlschrank verstaue. Sie sagt kein einziges Wort dazu! Diesmal ist es kein Aldi-Champagner sondern von Heidsick, bald zum Doppelten des Aldi-Preises.

Alles ist zu wenig, zu klein, was bisher in meinem Leben war, gemessen an des Alten heroischen Kampf mit seinen Schmerzen, mit seinem Ringen gegen die Lebensquälende Körper-Erhaltungsmaschinerie in einem gnadenlosen, medizinischen Profitbetrieb im Namen Christi. Doch daß der Alte jetzt seinen stolzen Kopf durchsetzt, daß er seine "Edelgard!!!", seine Söhne und Töchter Mimansa, Brigitte und Heike als Verbündete gewinnen konnte in seinem gerechten Kampf, das füllt auch unsere Brust ein wenig mit Stolz. So stolz hebt und senkt sich sein 91 Jahre lang schnaufendes Dampfroß-Gerippe, was knochig kalt zittert unter dem Waschlappen der flinken Pflegefinger. Noch können wir seine Haut-&-Knochen-Maschine salben, seine noch dunklen, langen Haare auf dem knochigen Brustkorb, den einst Muskelfleisch in Fülle bespannte, mit Pflegebalsam einreiben, daß er ein wenig erleichtert danach in eine neue Runde gehen kann mit dem, der da mit der Sense klappert und klingelt neben dem Bett, und dem er sich noch nicht ganz anzuvertrauen vermag. Doch trotz seiner Schmerzen wird er ruhiger und ruhiger, klarer und schöner, freier und friedlicher, geschüttelt von lautem Schluckauf alle vier Sekunden, 15 Mal in der Minute. Aber wieso überhaupt sollten sich Dinge oder Menschen miteinander messen lassen? Jeder bleibt seine eigene Unermeßlichkeit.

Heute bricht des alten Vaters vierte Hungerkünstler-Woche an. Die unerträgliche Pflegeheim-Qual liegt damit schon wieder so lange hinter uns, daß die Sterbensqual hier ausweglos bedrückend zu werden droht. Kleine Komplikationen auf der Zielgeraden bringen uns schnell, zu schnell aus der Ruhe.

Den morgendlichen Pflegedienst teilen sich zwei Schwestern, Anja und Ramona, die nach vier Jahren Bundeswehr-Sanitätsdienst die Heimpflege noch lernt. Daß wir im Haus hier auf den Tod warten, ist den Schwestern, die ja dauernd wechseln, schwer zu vermitteln. Doch ich versuche es:

"Ich habe den Arzt wegen der geringen Urin-Abfuhr befragt."

"Und? Was hat er gesagt?"

"...daß das Herz jetzt zu schwach würde, die Flüssigkeiten im Körper noch richtig umzupumpen."

Doch es kommt noch etwas anderes hinzu. Vater hat seinen Urin-Katheder nicht abgerissen, was sein Haupthobby war, als er noch besser bei Kräften war. Trotzdem liegt er in seinem Urin. Die Schwestern erklären die einleuchtende Ursache:

"Sein Katheder muß verstopft sein."

Während sie ihn reinigen, waschen. Hemd, Hose und Bettwäsche wechseln, schüttelt er sich anscheinend unter großen Schmerzen. Es ist mein Vater. Es besteht zwischen uns eine so enge Verbindung, daß ich seinen Schmerz mitfühle. Ich kann mir seinen Kampf nicht mehr mit ansehen. Ich schicke meinen Blick hinaus aus dem Fenster in die herbstliche Parklandschaft, die der Rauhreif versilbert hat heute Nacht. Ein Weidenbaum mit blaßgrünen, filigran-dünnen Zitterzweigen wiegt sich im stillen Stadewäldchen. So heißt der kleine Park, auf den die Eltern blicken, ständig eingehüllt vom Räder rollenden Rauschen der Ruhrgebietsverkehrsader B1.

"Ja, da sehen Sie den Grund,"

reißen mich die Pflegeschwestern aus meinen Träumen,

"Der Urin läuft neben her!"

Schwester Anja schreibt es in ihren Berichtbogen mit zwei "rr", "neben herr", doch sie ist nervlich von der Sterbeszene angegriffen. Sie schüttelt sich am Tisch, hält verkrampft den Griffel. Ihre Anlernkraft Ramona beobachtet, verwundert wie ich selbst, ihr zuckendes Unbehagen.

Ich berichte Doktor Harbig vom unangenehmen Befund der Pflegeschwestern. Er fragt, ob der Pflegedienst denn versucht habe, den Katheder anzuspülen. Als medizinischer Laie verstehe ich das Verfahren nicht und frage zurück:

"Nein, waschen, säubern und pflegen die denn nicht nur?"

"Nein",

erwidert er mit der professionellen Doktorruhe und Würde, der den Tod gleichsam wie einen Brötchengeben und normalen Alltagsbegeiter kennt, der letzlich irgendwann doch immer einmal seine liebevoll versorgten Patienten mitnimmt:

"Nein, die stellen sich sonst nicht so an und machen doch alles. Sonst müssen sie einen Urologen hinzu ziehen."

Mutter kennt schon einen, Dr. Niehusmann, der schon vor Vaters Pflegeheim-Einlieferung einmal hier eine Katheder-Spülung, sonst auch immer im Heim durchgeführt hat. Bruder Ulrich hat davon erzählt, wie er danach stundenlang apathisch und geschafft versuchte, sich ins Leben zurück zu finden.

"Kurz vorm Lokus in die Hose",

war einer Vaters Lieblingssprüche, weht es mir durch's Denken, wie ich unseres Arztes beruhigende Worte aufnehme:

"Der Urologe versteht etwas von der Sache. Schlecht auch, daß jetzt kurz vor dem Ende noch der Katheder verstopfen muß. Am besten wäre es vielleicht sogar, den Katheder jetzt nicht mehr zu wechseln sondern ganz zu ziehen. Das ist zwar pflegetechnisch etwas aufwendiger, aber scheint mir angebracht zu sein. Doch das muß der Urologe entscheiden."

Leider ist dessen Telefonnummer dauernd besetzt. Mutter wünscht sich in mitfühlender Unruhe und Furcht vor medizinischen Endanstrengungen nur, daß es doch vielleicht das Beste sei, wenn er denn in Frieden gehen könne. Wie leicht die Menschen, die das dritte Reich halbwegs unbeschadet wie meine Eltern überleben konnten, in panikhafte Angst geraten, denke ich mir.

Mutter hat nur einmal eine kurze Episode erzählt, wie sie als Militärschreibkraft gegen Kriegsende von Freiburg nach Salzburg in ein anderes Quartier verlegt wurden. Amerikanische Soldaten haben ihren Wagen angehalten und gefragt:

"Haben sie Waffen dabei?"

Mutter hat bereitwillig und ehrlich ihr Taschenmesser vorgezeigt und abgegeben. Erleichtert durften sie dann ihre Fahrt fortsetzen. Später hat sie erfahren, daß sie auf Kisten mit Granaten gesessen hat. Hätten die Soldaten diese gefunden, wären sie wahrscheinlich alle erschossen worden, meint sie. Wer sich aus Todesängsten herauswinden konnte, versucht vielleicht mehr noch, sich in gefährlichen Situationen mit umsichtiger Vorsicht zu verhalten. Und den Tod ins Haus als erlösenden Gast zu laden, rüttelt an die Grundfesten der Konsum-, Waren- und Gesundheitsindustrie.

Dabei wäre ein Hightech-Tod doch auch kein schlechtes Geschäft! Was hier abläuft mag hightech sein mit Komfort-Funktelefon und Fernsehfernbedienung, ein Hightech-Tod dürfte meines Erachtens nach ruhig etwas komfortabler und angenehmer ablaufen. Und besser riechen!

Der Urologe muß also entscheiden, versuche ich Mutter von ihren panikhaften Nervenstreß-Reaktionen abzulenken, doch mein Trost fällt wohl eher schwach aus:

"Der Urologe macht das schon wieder. Der Vater schafft das schon. Dann hat er Ruhe. Du hast noch das größte Problem dabei: Denn Du hast ja keinen mehr, den Du ärgern kannst."

Auch wenn das eher umgekehrt gewesen sein mag im Leben der lieben, alten Leutchen, auch wenn der Satz hilflos unpassend und dumm gewesen sein mag, einfach bei Sinnen, bei sich zu bleiben, sich nicht verrückt von Schmerzen, Leid, Sterben hier um uns herum machen zu lassen, die Natur in ihrem Gehen, Vergehen liebend zu verstehen, das ist der Sinn der Sätze.

Der Alte jedenfalls läßt mich nichts merken von seinem Zustand. Doch Mutter sagt häufig, daß er wohl große Schmerzen haben muß. Sie sähe es daran, wie er sein Gesicht verzieht. Mir gegenüber verzieht der alte Häuptling keine Wimper auf seiner Wechselluftmatraze, an seinem Marterpfahl des langen, langsamen Sterbens. Aber ich gehe auch nicht oft hin zu ihm. Ich versuche ihm beizustehen, wenn die Pflegemannschaft ihn morgens, mittags und abends bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit belastet.

Vielleicht wartet er auf seinen Augenblick von Friede, Stille und Glückseligkeit, den er bisher noch nicht gehabt hat in seinen 91 Jahren und sieben Monaten.

Beim Anblick und Geruch einer verstopften Harn-Katheder-Leitung verlieren weltliche Zauber wie von MacDonalds, Aldi und Coca Cola ihre Reize. Und selbst lebende Ikonen wie Naomi oder Claudia vermögen kaum noch den Gedanken Flügel zu verleihen. Es ist also nicht verwunderlich, daß dann die Gedanken Halt suchen, wo Vater nie zu Hause war, im Religiösen. Daß 2000 Jahre am Kreuz zu hängen, Vater sowenig Vorbild sein konnte wie der Jugend von heute, zeigt, daß er seinen Verstand zu brauchen verstand. Daß er auf seinen letzten Tage noch blind und blöd vor Schmerzen sich zu einer betend-bettelnden Litanei flüchten wollte, bleibt zu bezweifeln. Seine vereinzelten, seltenen Stöhnlaute klingen nicht nach Gebet. Oder sind das seine Gebete?

Mir hat er ja schon immer meine Indien-Reisen verübelt, die er als ausgemachten Quatsch, Zeit- und Geldverschwendung abtat.

Wahrscheinlich haben ihm sein Schreibtisch-Samadhi mit Ausblick auf's Stadewäldchen und sein buntes Farbfernseh-Nirwana mit Fernbedienung gereicht. Schade nur, daß er sein Samadhi, sein Nirwana zu Lebzeiten nicht so zu vertiefen verstand, daß er in abgehobener Erlösung zu gehen vermag. Verzeih Vater wie immer die ungerechten Sätze meines eingebildeten Hochmuts: Für das, was Du durchmachst, gehst Du voll Würde.

Wer Nirwana, Samadhi im Leben nicht lernt, und wer lernt das schon?, dem sollte doch für seine letzten Wochen, Tage und Stunden ein herrlicher Rausch von allen bunten Kräutern dieser Erde den Abschied versüßen. Das wäre eines Medizinmannes würdig zu erforschen!

Vater hat Religion als Opium oder als sonst etwas im Leben nie gebraucht. Ob uns unsere Religion schmerzvoll sterbend dereinst Linderung verschafft, können wir leider ja auch nur ein einziges Mal testen. Jesus am Kreuz hatte da wohl seine Zweifel, wenn mein jesuitisch-ungeschulter Verstand seinen Aufschrei richtig deutet:

"Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?"

Aus meinen für mich unterhaltsamen Betrachtungen reißt mich nur das Tagesgeschäft des Pflegedienstes. Schwester Anja versucht, den Katheder anzuspülen. Es ist ein leichtes, aber erfolgloses Unterfangen mit Freka Drainjet, der 180 Milliliter fassenden Faltenbalgflasche.

"Sehen Sie,"

führt sie mir anschaulich vor, wie sie die Faltenbalgflasche geöffnet hat, um ihren Inhalt in den vom Urinbeutel gelösten Katheder-Anschlußschlauch in Vaters Innere zu drücken,

"sehen Sie, da geht nichts durch."

Weiter unterhält uns der Tagesablauf damit, daß von meinen beständigen Anwahlversuchen zum Anschluß der ununterbrochen besetzten Urologen-Praxis plötzlich das Funktelefon "Sinus 53" der Telekom nur noch schnarrende Piepslaute von sich gibt. Wie eine 77jährige Oma aus der Bedienungsanleitung, deren Studium mich schon Stunden gekostet hat, schlau werden soll, ist mir ein Rätsel mehr auf Erden. Es erstaunt mich nach 10 Jahren in der Computerbranche, daß die Maschinen immer rätselhafter werden - selbst für die jungen Kollegen.

Jedenfalls gelingt es mir nach mehreren Anläufen, das Telefon in seinen Grundfunktionen vollkommen zurück zu setzen, zu "resetten". Meine Anstrengungen belohnt das "Sinus 53" mit dem Freizeichen, welches früher Telefone nur verlernten, wenn ihre Leitung tot war.

In weiterer Computerlernstunde programmieren Mutter und ich fünf Telefonnummern ein, für drei Söhne, ihre Schwester und den "Piepser". Damit meint sie meinen Funkrufempfänger.

Wieso der erste Speicherplatz im Computer-Telefon mit der Code-Nummer "00" für meinen Bruder Ulrich belegt sein muß und also nicht, wie Mutter vor 70 Jahren in der Schule bei ihrem Vater das Zählen einmal zu lernen begann, wieso der erste Speicherplatz nicht mit einer "Eins" anfangen kann, muß doch geradezu verwunderliche Gedankenverknüpfungen in Gang setzen. Wer will immer auf Speicherplatz "00" auf Abruf warten? Es ist nicht bös' gemeint, lieber Ulrich-Bruder, daß ein blöd gebautes Computer-Telefon mit "00" sein Einmaleins beginnt.

Nachdem sich nun also das Telefon nach vollständigem "Reset" und anschließender Rufnummern-Programmierung als wohl gefüttert erwies, verband es mich - Dank der gütig sorgenden Existenz - nun auch gleich zu meiner großen Verwunderung mit der Arztpraxis des Urologen. Ich schildere der Unbekannten an der anderen Leitung den Problemfall. Der Urologe sage seinen Besuch noch heute zu, läßt sie mir ausrichten.

"Wann?",

"Das hat er nun nicht gesagt."

Bescheiden kann ich ja warten, bis er kommt. Mutter und ich freuen uns, daß er überhaupt heute gleich kommt. Nach der Stunde zu fragen, wenn es in die Ewigkeit geht, ist schlicht unverschämt.

Von Träumen und Taten entläßt mich ein Tagesspaziergang zur Bären-Apotheke. Vater's Windelgröße heißt "M", die kleinste Größe, hat mich Schwester Anja aufgeklärt. Zu dumm nur, daß ich dies nicht alleine herausbringen konnte, wo heute schon die "Faltenbalgflasche" meinen Erfahrungshorizont um ein Wort mehr als genug erweitert hat. Alter Vater, wann haben wir genug gelernt?

Jeder Atemzug bleibt eine eigene Wissenschaft für sich. Windeln in der Apotheke zu kaufen ohne Angabe der Marke, des Herstellers, ohne Verschreibung des Arztes ist auch schon wieder ein eigener Trip. Die Damen mustern mich mit vielsagenden Blicken, als seien sie den verschrobenen Lustspielen eines Polymorph-Perversen auf die Schliche gekommen und merken spitz an:

"Windeln, wirklich Windeln, keine Vorlagen?"

"Danke, haben wir noch...."

fliehe ich verschüchtert, verstört mit dem sperrigen Paket, nachdem ich 32 Mark und 3 Pfennige Geldblut gelassen habe. Wozu diese drei Pfennige? Ich verstehe diese geheimnissvolle Welt von Faltenbalgflaschen, Computer-Telefonen und PEG-Patienten-Greisen nicht. Mutter sieht wohl meine Besorgnis und fragt mitfühlend beim Nachmittagskaffee:

"Ist Dein Urlaub jetzt kaputt?"

"Wieso, das ist mein Urlaub",

antworte ich verwundert.

"Na ja, ich dacht' nur, wenn Du nach Poona wolltest...."

"Ich?"

staune ich wieder, weil ich meiner Erinnerung nach nie die Rede darauf gebracht habe, doch greife ich das Stich- und Reizwort gerne auf:

"Ich? Du solltest mal nach Poona reisen, wenn Du das hier geschafft hast! Ich war doch schon sieben Mal in Indien. Wenn Mimansa ihren Weihnachtsmarkt fertig hat, kann sie Dich ja gleich mitnehmen."

"Nein, danke, laß mal. Ich kümmere mich schon um mich. Ich habe andere Interessen, vielleicht noch mal nach Gatteo Mare...danke, danke,"

mein Ego kann sich auch beleidigt beschweren:

"Danke, ich kümmere mich auch selbst um mich!"

Was wir uns immer alles einbilden, denke ich. Doch dann errechnen wir akribisch, daß es nach seiner Pensionierung '71 bis zu ihrer letzten Frühlingsfahrt 47 Aufenthalte im Hotel Europa in Gatteo gewesen sein müssen, im Frühling und im Herbst. Der Alte fuhr noch mit 89 Jahren nach zwei leichteren Hirnschlägen, nur wohl nicht mehr ganz so kämpferisch wie die Schumacher-Brüder. Ulrich berichtete einmal, daß er sein Leben im Höchstmaß bedroht gefühlt habe, als der alte Tattergreis ohne links und rechts zu blicken sich mit seinem Opel aus einer Tankstellenausfahrt in den Verkehrfluß warf. Aber er kam immer unfallfrei an und zurück. Und wenn er nicht gestorben wäre, führe er nächstes Frühjahr noch.

Wenn Mütterchen dann fährt, ist ja der Tradition Genüge getan, doch einen letzten Versuch ist mir die gute Sache doch noch wert:

"Gatteo Mare macht doch erst im Frühjahr auf, dann seid ihr doch längst wieder aus Poona zurück,"

versuche ich sie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Aber sie hat ja schon einen - auch gut.

Mir ist Poona überall. Höchstens der Service ließe sich hier im Elterhaus noch steigern. Aber ich kann ja mal vorsichtig anfragen, wenn ich weiter hier meinen Luxus-Urlaub an Vaters Schreibtisch feiere, vorsichtig nach Vollpension anfragen. Schließlich weiß die alte Frau Mutter ja nach mehr als zwei Wochen bei ihr, wie ich meine um Fischleichen bereicherte pseudo-vegetarische Gemüse- und Tofu-Gerichte gerne esse. Und wenn ich die Zutaten selber besorge, wird sie ja nicht viel falsch machen können, bilde ich mir in schnöder Überheblichkeit ein.

Jedenfalls weiß ich nicht, wie der ganze Urlaubsstreß mal wieder zu bewältigen ist. Drei Besuche - von Urologe, Hausarzt, Pflegeschwester - stehen heute noch aus, der Spiegel, die Süddeutsche sind noch nicht einmal zum Viertel bewältigt, das Buch von meinem Arbeits- und Zimmerkollegen Wolfhardt "Buchheims Festung" ist noch gänzlich unberührt, und wie lange das Sterben von Jörg Andrees Eltens Mutter in seinem beachtlichen Büchlein "Karma und Karriere, dem Märchen von tausendundeiner Angst" dauert, habe ich auch noch nicht nachgelesen. Ich bleibe am Satz auf Seite 120 hängen:

"Die Buddhisten sagen, daß Bewußtheit im Angesicht des Todes die Versäumnisse eines unbewußten Lebens aufwiegt."

Wie lange das Sterben von Swami Satyanandas Mutter gedauert hat, erfahre ich zwar auch nicht aus seinem Kapitel, doch von ferne dämmert mir auf meine ungeduldige Frage eine Antwort:

"Es dauert so lange, wie es dauert."

(((Jörg Andrees Elten, Karma und Karriere, Hoffmann und Campe, 254 Seiten, ISBN 3-455-08447-8))

Bruder Ulrich kommt, Bruder Dieter ruft an, Freundin Mimansa meldet sich lieb, Schwester Marita ist längst mit der Abendvisite fertig, nur die Doktores lassen auf sich warten. Muß deren Arbeitstag ein gnadenloses Streßrennen sein, daß sie noch nach 21.00 Uhr zu Hausbesuchen flitzen wie Versicherungsvertreter.


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5. Endlich wieder sein Lächeln!

Dr. Harbig fühlt Vaters gespannten Bauch, der von Schmerz erschreckt mit kraftvoller Energie dessen Hand zurück stößt. Er mißt den Puls, der schon bei 60 liegt. Als er geht, kommt sein Kollege Dr. Niehusmann. Beide Doktores bringen sich noch kurz in der Garderobe auf einen Wissenstand. Das erspart mir lange Erklärungen, daß es mit der Sondenkost seit 21 Tagen vorbei ist. Seines Kollegen Hilfe braucht der Urologe bei seiner Arbeit nicht.

Also wechselt er Vaters Verband, der sich wütend verteidigt. Beruhigend rede ich ihm in seine blauen, großen Schreck geweiteten Augen:

"Alter Häuptling, das schaffst Du, dann sind Deine Schmerzen doch gleich vorbei. Nun halt noch einen kurzen Augenblick aus."

Der Doktor bittet mich, daß Vater während der Prozedur des Kathederwechsel nicht mit seinen Händen dazwischen haut:

"Das ist jetzt nicht ganz ungefährlich, was ich hier mache!"

Doch daß ich, sein Rotzlümmel von Sohn dem Alten die Hände halten soll, geht dem alten Häuptling so gegen den Strich, daß er Schmerz und Arbeit des Doktor ganz zu vergessen scheint. Er hebt jedenfalls die Faust weit über den Kopf.

Das Handwerk des geschickten Arztes kann und will ich nicht beobachten, weil ich derweil zum alten Häuptling beruhigend leise spreche, um ihm seine Angst nehmen zu helfen.

Es dauert keine drei Minuten, da ist der kleine Eingriff erledigt. Unmengen von Urin fließen in den Beutel ab, ganz wie Dr. Harbig das so treffend formulierte:

"Ein Liter floß zu, ein Liter floß ab."

Der Beutel ist von Urin und Spülflüssigkeit gleich prall voll. Ein satter Liter bläht den Plastiksack, daß ich gleich dienstfertig in einem Wasser gefüllten Eimer den Urin entsorgen will. So habe ich es von den Schwestern gesehen. Ich bilde mir ein, mit einem Spritzer Desinfektionsmittel im Eimerwasser müßte ich den Handgriff schon vollbringen. Meine Einbildung reichte gerade einmal, um den Beutel halb zu entleeren. Die dabei frei werden Gase, Gerüche lassen mich sofort würgen, daß ich es gerade noch schaffe, den Beutel zu verschließen, den stinkenden Eimerinhalt im Klo zu verspülen, würgend ins Wohnzimmer zu eilen, die Balkontür zu öffnen, mich in der kalten Abendluft strecke und dehne, frische, unverbrauchte Luft ansauge.

Als ich befreit zu Vater zurückkehre, begückwünsche ich ihn:

"Alter Häuptling, super, klasse! Alles in Ordnung?"

In seinem knochigen Schädel, den faltenlose Greisenhaut immer straffer zu spannen scheint, wulstet er die Lippen zur Andeutung eines Lächelns. Mutter hat sein Bettdecke neu bezogen, in dem sich schon wieder etwas Urin gesammelt hatte. Der Doktor spricht noch ernst und feierlich, daß er mir noch etwas sagen müsse.

Im Wohnzimmer eröffnet er mir, daß es sehr schlecht um meinen Vater stünde.

"Wissen Sie das?"

Weil er meine Antwort vom Gesicht abliest, klärt er mich gleich weiter auf, was seinen Krankenhauskollegen vor zweieinviertel Jahren anders beurteilten. Vielleicht hat sie auch irgendein juristischer, bürokratischer Blödsinn zu ihrer widersinnigen PEG-Therapie veranlaßt.

Der Urologe, dem wir sehr, sehr dankbar sind, erzählt also weiter, daß lebensverlängernde Maßnahmen gar keinen Zweck mehr hätten. Wir wollen und sollen alles tun, das er schmerzfrei bleiben kann.

"Dazu haben Sie ihm nun doch verholfen, Doktor. Ich danke Ihnen dafür."

"Ja, der Katheder kann nun sechs, sieben Wochen offen bleiben, was man aber nie genau vorher sagen kann. Ihr Vater hat nun, nachdem er schon mehr als zwei Jahre mit Katheder abgeführt hat, garnicht mehr natürlich abführen können. Jetzt ist aber wieder alles in Ordnung. Ich bin nur ab dem 20. in Urlaub. Dann sagt Ihnen aber mein Anrufbeantworter, wer mich vertritt."

Ich glaube, nicht recht zu hören! Ab dem 20.? Wir haben den 2. Dezember, die vierte Hungerwoche des Knochenmanns nebenan bricht an. Ich schüttele unbehaglich den Kopf:

"Das kann ich mir nicht vorstellen, daß es noch solange dauert."

"Ich auch nicht",

"aber man steckt ja nie drin",

bringe ich seine Gedanken zu Ende. Doch Vater wieder fröhlich gesehen zu haben, läßt mich beschwingt den Müll seiner Behandlung entsorgen. Er trägt seine beiden schweren Arztkoffer in seinen Kombi-Daimler. Und sticht mit seiner Lotsen-Mütze wieder wagemutig in den nächtlichen Verkehrsfluß.

"Ja, ich bin immer abends spät unterwegs. Denn da ich einer der wenigen bin, der diese Behandlungen daheim durchführt, ist ganz Dortmund von Westen nach Osten, von Süden nach Norden mein Revier. Während der Mittagszeit hat es gar keinen Zweck, rauszufahren. Der Verkehr ist so dicht, daß ich da gerade einmal eine Behandlung schaffe. Und dann komme ich vielleicht sogar noch zu spät zurück in meine Praxis. Deshalb fahre ich immer abends raus."

Sein Name paßt doch wunderbar: Dr. Niehusmann! Ein schöner Name, sage ich ihm, sollen die Leute eben nachdenken.

"Erhard?"

fragt Mutter besorgt, als ich von der Mülltonne und dem Arztabschied zurück komme,

"hast Du auch die Haustür unten abgeschlossn? Wir bekommen sonst Ärger hier im Haus."

Ich recke und strecke mich wieder und antworte frei von des Tageslast, der mir wie ein Stein auf dem Herzen lag, bis Vater endlich jetzt wieder frei abführen konnte.

"Ich gehe gleich wieder, ich hab' jetzt Feierabend."

Doch ich komme nicht weit in der nachtkalten Stadt. Einen Block umrunde ich gerade. Das Kronenstübchen in der Landgrafenstraße sieht zwar gemütlich aus von außen, doch es lockt mich nicht, Vaters schönen alten Schreibtisch mit einem Wirtshaustisch zu tauschen. Also bin ich schnell wieder bei den Eltern daheim und habe Mutter wohl erschreckt:

"Ach, bist Du schon wieder daheim?"

zieht sie mit einer großen Kassette und mit Bündeln von Papieren darin aus ihrem Küchenreich ab. Am Schreibtisch liegt eine Blumen geschmückte Karte mit einem Büschel Hunderter darin. Ich zähle sie nicht, ich frage nicht nach ihrem Sinn und Verbleib.

Vater höre ich, jaulend klagen. Mutter sitzt längst lange bei ihm. Er umklammert ihre Hand. Sie spricht ihm Mut und Ruhe zu. Er hält sie so fest, daß sie mich bittet, ihr die Strümpfe zu holen. So sitzen sie lange beiander. Er schläft endlich so ruhig ein, daß ich nicht einmal zu fragen traue, ob ich die traute Szene fotografieren dürfe. Es ist schon genug, sie zu beschreiben, mehr als genug.

In der Minute nach Mitternacht habe ich meinem Funkrufempfänger sein Einschalt-Brummen einprogrammiert. In diesen langen Urlaubsnächten höre ich es häufiger als daheim.

Mutter bringt ihm die Wärmflasche. Seine Füße sind eiskalt, seine Hände schwitzen. Sie sitzt wohl wieder eine lange Nacht bei ihm. Wir können ja morgen schlafen.


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6. Letztes Abenteuer oder Pech-&-Schwefel

Was ist das letzte Abenteuer? Der Tod? Hier mag es zwar so aussehen, doch sein Sterben sieht seinem Leben zu ähnlich. So mag der Tod zeitlich das letzte Abenteuer sein, aber nicht im Sinne von höchstem, besten, eben dem letztlich Erreichbaren. Sein Sterben ähnelt bisher verdammt seinem täglichen Leben, wenn ich mir das anzumaßen erdreisten dürfte. Aber was können wir letztlich anderes erreichen als den Tod? Die Frage bleibt, wie wir ihn erreichen.

Dieser Tod gibt nichs her, was zu verklären wäre. Nein! Jedenfalls nicht solange er dort nebenan röchelnd schluckt im Vier-Sekunden-Takt. Ist es nicht das letzte Abenteuer, sich selbst zu erkennen, die Natur seines Verstandes zu verstehen, zu sehen, direkt zu erfahren, wie wir das unvergängliche Bewußtsein teilen? Blablabla...

Folgt nicht aus der Selbsterkenntnis die Kunst, erkennend, klar, selbst-bewußt sterben zu können? Klingt dies Konzept, dieser Entwurf, dieser Plan eines Lebens nicht versprechender als anderes? Und brächte uns nicht Selbsterkenntnis augenblicks die Freiheit von leidvollen Verwicklungen? Gleicht diese Freiheit nicht der Unendlichkeit, dem Paradies?

Die Freiheit einer Urlaubsfahrt im Zeppelin zerbarst im Feuersturm, die freie Jungfernfahrt mit der Titanic endete an einem Stück Eis, die Freiheit, den Schalter umzulegen, könnte wie in Tschernobyl oder Hiroshima enden. Bleibt uns nicht nur als letzte Freiheit, bewußt leben und sterben zu lernen?

Die Urlaubsnacht lockt zwar mit einer neuen Mord-&-Totschlag-Serie aus einem der drei Fernsehkanäle, unterhaltsam wie letzte Nacht: Der Tod und das Mädchen.

Doch die Existenz gönnt mir lieber drei, vier Stunden Schlaf, ohne vorher Sinn, Gefühle, Gedanken vom Fernseher fangen zu lassen. Mir reichen schon Zeitungen und Gangsta-Rap, um über den fortschreitenden Wahnsinn bis zur nächsten reinigenden Katastrophe auf dem Laufenden zu bleiben. Warum suchen nur Wenige ihre Glück auf dem Weg der Selbst-Erkenntnis? Warum soll diese stille Reise das letzte Abenteuer von wenigen Erwählten bleiben?

Wer sich mit 91 Jahren wie Pech im eigenen Schwefeldunst an seine letzten Schnaufer klammert, sieht der noch die Bilder seiner letzten 47 Italienreisen der vergangenen 24 Jahre? Wenn wir mit, bei vollem Bewußtsein, unsere Schmerzen, unser Sterben erleben dürften, wäre das nicht unser wirklich letztes Abenteuer?

Ob wir Pilger auf unserer Lebensreise, vielleicht auch nach Lourdes, Poona, Mekka, Saltlake City, Rom oder Altötting bewußt sterben, bleibt uns denn keinerlei Entscheidung, keinerlei Mitsprache, keine Vorbereitungszeit? Wenn nichts uns helfen kann in unseren letzten Stunden, bliebe dann nicht der Wert von Erkenntnis gering? Was nützt dann Erkenntnis, Selbst-Erkenntnis?

Diese Kapitel sind wie mit einer groben Auflösung von vielleicht 320 mal 200 Bildpunkten, gleichsam in einfacher 8-Bit-Erzähltechnik wie aus den Anfangszeiten der 8086er-Prozessor-Technologie gestrickt.

Wer tiefer sähe, braucht, um einen Atemzug zu beschreiben, 1000 Seiten. In weiterer Auflösung ins Einzelne zu gehen, reicht ein Leben nicht mehr, um von einem Atemzug zu berichten.

Die Existenz könnte auch Dir einmal ein Hilfsmittel schicken wie eine Meditation, eine Nadabrahma-Meditation in der Nacht, eine Vipassana in beliebiger Bahnhofswartehalle. Nicht daß Du damit etwas anderes erhieltest als vielleicht gewöhntes Zappen durch Fernsehkanäle in schlafloser Nacht. Doch während Du Deiner Gedankenjagd hinter geschlossenen Lidern zusiehst, erhaschen Spuren Deines Bewußtseins vielleicht sogar einen ersten Zipfel der Decke, unter der sich Gedanken wie in Pausen verruhen. In dieser Gedanken Stille überfließt Dich vielleicht gar ein Glück, das wie Samadhi oder Nirwana in Deinen Wunschträumen nachklingt wie jetzt vielleicht noch Jack-Pot oder Mercedes-Benz.

Wer hat seine Gedanken schwinden gesehen? Hast Du vom Glück geschmeckt, in dem ungetrübtes Bewußtsein Denken und Fühlen unverzerrt spiegelt? Vielleicht kannst Du putzmunter Deinen Tod gleichsam üben, daß er seinen Schrecken, seine Macht verliert? Vielleicht kannst Du Dich noch sehr lebendig auf Deinen Tod vorbereiten, bevor Du völlig hilflos und überrascht in seinen Klauen Dich windest?

Dies Pech-&-Schwefel-Spiel, was uns seit Urzeiten durchs Hirn geistert, ist in Vaters Zimmer greifbar. Wie Pech kleben wir am Körper, wie Pech verbinden wir unsere traurigen Gedanken mit seinen Atemzügen, wie Schwefel stinkt ätzend sein blauschwarzes Urinkonzentrat.

Doktor Harbig hat gehofft, daß Dein Herzschlag so weit abfällt, daß Du keine Harnstoffe mehr ausschwemmen kannst. Diese harnfähigen Stoffe könnten gar bis zum Hirn ansteigen, um in einer Art eigener Narkose Dir im Koma den Ausstieg aus Deinem Körper zu erleichtern. Der Tod sei schön, sagt der Doktor. Dein ruhiges, ausgeglichenes Gesicht zeugt von Deinen letzten, wichtigen Erkenntnissen. Was magst Du sehen? Es sieht aus wie tiefes Glück, wie tiefe Stille, Ruhe und Entspannung.

Dieser Mittwoch teilt mitten die Woche, Deine Letzte? Belohnt Dich ein letztes, stilles, inneres Lächeln? Schenken Dir all Deine Mühen ein Lächeln, ein letztes Lächeln zum Schluß? Das scheint die Quintessenz von Religiosität, von Erleuchtung, vom Himmel auf Erden zu sein. Blablabla

Mutter sitzt schlohweiß am Küchentisch und leidet am Tagesbeginn:

"Noch ein paar so Nächte, und ich bin auch fertig."

Schön ist des Sterbens Theorie, hart ist die Praxis. Schweigend, doch gereizt kann ich mir meinen zynisches Sarkasms verkneifen, giftend, daß es dann ein Aufwasch sei.

Dafür vergifte ich Vaters Tee . So kommt es mir jedenfalls vor, als ich Doktor Harbigs Medikamention befolge:

"1000 ml Tee mit 150 Tr. Tramadoral + 50 Tr. Atosil."

Treu der harten Linie bekämpfte Vater Schmerzen bewußt. Im Kampf gegen Schmerzen finden wir einen Ausweg zur Heilung, letzlich zum Tod. In seinen 40 Beamtenjahren rühmte er sich dreier Fehltage. Ich sehe ihn noch lebhaft vor mir, wie er mit geschwollner Backe und hohem Fieber zu seinem Arbeitsplatz am Hiltropwall kroch, bis er seiner Mittelohrentzündung gestattete, in wenigen Bett-Tagen zu verheilen. Er berichtete von seiner Weisheitszahnbehandlung vor Jahrzehnten noch voller Stolz:

"Das war in Rußland. Einer tat weh, war vereitert. Ich habe sie alle vier gleich rausbrechen lassen. In einer Sitzung und ohne Betäubungsmittel."

Schwimmen im dünnen Eis, das blutige Risse auf seiner Haut hinterließ, gehörte zu seinem traditionellen Sonntagsvergnügungen, das ich als Kind mit schaudernder Achtung teilte - als frierender Zuschauer. Es war seine Art, Leben zu feiern. Heute macht man eben dynamische Meditation, weil die Gewässer zu schmutzig und die Winter zu warm geworden sind. blablabla

Nun empfiehlt Doktor Harbig, Vater mehr zu seditieren. Ich lese seinen Eintrag vom Abend nach:

"1000 ml Tee mit 150 Tr. Tramadoral + 100 Tr.Atosil."

100, nicht 50 Tropfen erkenne ich meinen Fehler und gehe, den Tee nachzuwürzen. Vater schluckt röchelnd. Seine Computer-Amme habe ich auf 77 ml pro Stunde hochgestellt, Tagesbetrieb. Nachts laufen 11 ml in einer Stunde zu. Damit stimmt die Rechnung:

12 Stunden * 77 ml + 12 Stunden * 11 ml = 1056 ml pro Tag entsprechen 1000 ml Tee + 56 ml Tropfen

Diese computer-dosierte PEG-Ernährung ist ohne Rechencomputer kaum noch nachvollziehbar. Mutters Mathematik-Unterricht liegt schließlich schon Jahrzehnte hinter ihr. Die auf Taglast erhöhte Pumpenleistung mit den Seditationsmitteln im Tee wirkt: Vater entspannt sich zusehends. Bereiten wir uns also mit einem schläfrigen Tag wieder auf eine harte Nacht vor? Denn nachts lasse ich seine Computer-Amme nur tropfen.

Bevor ich mit Vaters Müdigkeit vom Frühstück satt im Wohnzimmersessel einschlafen kann, leutet mich der Pflegedienst wach. Die Doppelbesetzung, Schwestern Anja und Ramona rücken an, wie ich noch schwach zu scherzen vermag.

Sie rühmen die 1000 ml Urinabfluß. Doch das Ablassen des Urins aus dem wieder verwendbaren Beutel gestaltet sich schwierig, weil der Abfluß wohl verschleimt und verstopft ist. Es sind noch fünf Schuhkartons voller kleiner Urinbeutel im Haus, die an seinen Oberschenkel im Rollstuhl befestigt wurden. Damit behelfen wir uns, derweil ich würgend von den Schwefelschwaden im Krankenzimmer mich hastig verabschiede:

"Ich lauf, schnell die großen Urinbeutel zu holen!"

Fliehend renne ich würgend die Burggrafenstraße bis an die nächste Ecke. Die hastig gefrühstückte, geräucherte Forelle würgt sich mir durch den Hals mit dem selben Geschmack wieder hoch, wie ich ihn gerade noch im Krankenzimmer in der Nase hatte. Unauffällig eile ich mit beschleunigten Schritten, um den Frühstückstee mit Forellen-Brötchen und frisch gepreßtem Orangensaft in verschiedene gepflegte Vorgärten und Einfahrten speien zu können.

Die Apothekerin stempelt ihren Preiseintrag von Windeln und Verbandszeug in der ärztlichen Überweisung ab: 75,00 Mark. Das drei-Pfennig-Rätsel löst sich auf: Die 3 Pfennige der Windeln ergaben mit den 97 des Verbandszeug die volle Mark.

Vom nackten Überleben berichtete forsch eine Domina und Windeldame in der Wochendbeilage der Süddeutschen vom 28.11.'97:

"Meist sind es hochgestellte Leute mit Macht. Und zum Ausgleich lassen sie sich in den Sado-Maso-Spielen bei mir unterdrücken. Erwachsene Männer werden bei mir zu Kleinkindern, wollen Windeln und Babyhäubchen tragen, im Gitterbettchen angegurtet werden. Da können sie sich total fallenlassen und kommen zum Orgasmus. Nach der Prozedur sind sie irgendwie erleichtert. Aber alle paar Wochen brauchen sie eine neue Behandlung."

Mir ist schon schlecht, sollen sie es tun, denke ich. Die Dienste der domianten Dame mögen nicht ganz billig sein, aber preiswerter als Krieg zu spielen, ist diese Art der Triebabfuhr allemal. Meine Nerven liegen blank. Immer wieder muß mich die "Scheheradzade" von Rimsky-Korsakow beruhigen. Ich will nur noch schlafen. Vater hat schon ein Auge geschlossen. Das rechte Auge blickt verdreht und starr zur Zimmerdecke. Der Schwefel-Urin-Gestank läßt mich nach seinem kurzem Anblick aus dem Zimmer fliehen. Sein Schluckauf schwächt sich ab. Aber noch hält er seinen Takt. Ich werde darauf bestehen, daß Dr. Harbig nach Vaters endlosen Leiden und Mühen seinen Totenschein mit "summa cum laude" ausstellt! An irgendetwas muß sich das Ego der Hinterblieben doch erfreuen dürfen.

Doch erschreckt denke ich immer an seine Worte der Abendvisite:

"Freitag komme ich dann wieder, vielleicht schon gegen 14.00 Uhr. Nur am Wochenende habe ich wieder einen kurzen Urlaub."

"Was? So lange kann es doch nicht mehr dauern?"

"Das glaube ich eigentlich auch nicht."

Warum ich es so eilig habe? Weil es mein Körper zum Kotzen findet! Schon im August '95, als ich ihn dort im Krankenhaus gefesselt, damals noch mit einer Nasensonde liegen sah, reagierte mein Magen genau so. Ich saß dort eine Weile, meditierend, mein trainiertes Beruhigungsprogramm auflegend. Irgendwann wurde es auch heller, ruhiger im Raum. Ich hörte Vater dann satt, warm, entspannt in seine Windeln scheißen. Der Geruch trieb mich aus seinem Krankenhauszimmer, trieb meinen Mageninhalt gleich mit raus in die nächste Hecke. Ich eigne mich nicht zu dem Job. Ich will schlafen, starten, Diesel volltanken, ab zur Freundin, kuscheln, fliehen. Es reicht. Es stinkt mir! Hier kommt der Tod nicht als Sensenmann, dieser Tod kommt wie ein Folterer!

Volltanken in Marten, wo sich Brüderchen Ulrich im Ruhrgebietswohnhaus aus den 30er Jahren mit Heike, Söhnen und Hennen für seinen Lehrerjob fit hält, Auto waschen, Brinkhoff's No. 1 für Mutter nachladen, im Revierpark Wischlingen Kraft durch Freude aufbauen.

Die Sauna "Sahara" glüht den Körper mit 100 Grad Hitze durch, das Sole-Bad schaukelt den Leib, bis er erschöpft einschlafen kann. Anderthalb Stunden gönnt sich der gütig sorgende Körper einen traumlosen Schlaf, bis ihm selbst die tropfende Solebadluft in dem letzten, oberen, wärmsten Winkel dieser Badelandschaft zu kalt wird.

Die Sauna "Provence" mit ihren 80 Grad wärmt gerade angenehm, wohlig. Ein schweres, nacktes, vor behagen schnurrendes, brummendes Walroß suhlt sich genüßlich auf langem Handtuch. Kollegin Kathrin, die 20 Jahr jüngere Süße, hat es mir in der Firma zum Geburtstag geschenkt. Und zu dieser Energie, den Gedanken verkörpern sich dann auch passend zwei Elfen, die sich frisch vor und neben mir ausbreiten, um im Flüsterton von ihrem Abiturtermin zu plaudern.

Ich denke an Meister Osho, als Rollce-Royce-Bhagwan besser bekannt, der mir '81 in Poona seine Holzkette mit einem Bild von mir umhängte, weshalb sich nun meine privaten Bekannten und Freunde mit einem schwierigen, indischen Namen herumärgern: Swami Anand Sudesh. Das heißt soviel wie etwa Pilger zum wunderbaren Platz von Glückseligkeit.

Doch, grübele ich in der Sauna, angeregt von den Primanerinnen in ihrem wunderschönen, erregenden Eva-Kostüm, grübele ich also, daß ich von Oshos Zielsetzung seiner Namensgebung doch nun rein garnichts begriffen habe. Denn in Gegenwart der jungen Damen fühle ich weit intensiver einen köstlich pulsierenden Blutstrom in der duftenden Wärme der Sauna Provence. Da erschrecke ich über meine ständig wertenden, urteilenden Sätze, in denen ich drastische Unterscheidungen und Wertungen erkennen muß. Pech-&-Schwefel klebt es, stinkt es mir an Vaters letztem Bett, Paradies-&-Apfeltraum beflügelt die Sinne in der Sauna "Provence". Einen wunderbarer Patz von Glückseligkeit, meine ich, kann sich doch nicht von Äußerlich- und Nebensächlichkeiten gestalten lassen, wie es nunmal zwei Primanerinnen in der Sauna oder ein sterbender Vater darstellen. Was hat das mit Meditation zu tun, wenn das vergnügungssüchtige Wertempfinden den einen Ort würgend flieht und am andern Platz garnicht lang genug schwitzen kann? Wohin verdrücken sich dann bloß so hehre Werte wie Selbsterkenntis und Wahrheit?

Zerknirscht sehe ich wieder mein vollkommnes Versagen nach 20 Jahren Indien-Fahrten und Besuchen bei so vielen Meistern der Szene, die da Rang und Namen haben: Vor Osho verriet mir schon 1976 in Madras ein Mahareshi-Mahesh-Yogi-Meisterschüler ein unendlich heiliges und wichtiges Mantra. Ich kaufte das exotische Wissen dort recht günstig für etwa 30 Mark ein, und er flüsterte das Mantra mir zu mit der strengen Maßgabe, es niemals und niemandem zu verraten. Ich brachte dem Ehrfurcht erregenden Inder, wenn ich denn je für solche Erregungen fähig bin, einen dicken Apfel auf einem neuen Taschentuch als Dankesgaben für seine Einweihung in dies tiefe Geheimnis. Es schien ihm nicht gerade viel zu sein für das, was er mir schenken sollte.

Doch wen bis hier dies Büchlein erfreute, dem schenke ich mein Wissen um das heilige Mantra. Das Mantra also, was mir hinter vorgehaltener Hand, abseits von anderen Sinn- und Wahrheitssuchern der Gruppe ins Ohr geraunt kam, es heißt "OOiinKK!". Wer also, wie ich darüber täglich nur ein Viertelstündchen in andächtiger Versenkung zu meditieren bereit ist, findet vielleicht, wie die Existenz mir es schenkte, einen Meister wie Osho, der ihn weiter auf der Reise begleitet.

Vielleicht ist es noch hilfreich auf dem Wege zur Wahrheit, daß das Ego tüchtige Schläge auf den Dampfdeckel des Topfes bekommt, in dem wir unsere Vorurteile, Meinungen und Wertungen ein Leben lang ausbrüten, bis das der Tod uns davon scheidet, volkstümlich gesprochen: Bis uns der Teufel holt. Wer kann sonst etwas damit anfangen?

Mir ward also in der Sauna "Provence" bei halb geschlossenen Augenlider, wodurch die Rundungen der Primanerinnen in sanftem, schimmernden Licht zu verschwimmen schienen, die schmerzhafte Erkenntnis zuteil, daß ich mit meinen Wertungen und Meinungen noch keinen Deut weiter zur Freiheit gewachsen bin. Damit Vater nun aber nicht doch noch am End' Recht gehabt haben soll mit seinen heidnischen Verwünschungen, daß alle Indien-Reisen Hokuspokus, rausgeschmissen Zeit und Geld sind, gelobe ich hiermit feierlich im Bad zu Wischlingen, an seinem Bett noch brav zu sitzen, um die Chance nicht ungenutzt vergehen zu lassen, mein inneres Wertechaos dabei zu sehen und zu verstehen. Denn die letzte Wahrheit ist die von sich selbst, das letzte Abenteuer. Noch ist es nicht zu spät, noch kann ich die Chance nutzen. Und wenn er schon gestorben ist, kann die Meditation umso besser, umso tiefer gehen. Nur wie Mutter zweifelte

"ich glaub', es ist das Beste für ihn",

da muß ich aufsteigende Rasewut zähmen:

"Glaubst Du nur? Ich weiß es! Stell ihn Dir im Krankenhaus jetzt vor, an einem halbe Million teuren Maschinenpark angeschlossen."

"Ich weiß es ja, weiß es ja,"

versucht sie, die Pech klebende Verbindung zu ihm zu lockern. Und ich stelle mir vor, wie es dem Ego irgendeines karrieresüchtigen Jungmediziners gefallen hätte, Vater bis zum 150. Lebensjahr am Atmen und Kacken zu halten. Dann hätte er sich zum Jubiläum neben seinem Opfer ablichten lassen, um sich in der Branche feiern zu lassen. Und Vaters grimmigen Blick hätte niemand, der ihn kannte, zu deuten vermocht, weil seine Angehörigen inzwischen längst gestorben wären.

Zwischendrin nach einem Anruf bei Mutter, "wo bleibst Du denn?", "ja, hier schlafen, Sauna, alles in Ordnung?", "ja, er ist ruhig, kannst noch bleiben" treffen mich die wißbegierigen Primanerinnen wieder, leider schon gehend mit der Frage:

"Wie schreibt man 'FÖN'?"

" F, Ö, N",

fällt mir Stummkopf nur ein, und sie ganz munter:

"Ja, und die Mehrzahl?"

Da bin ich mal wieder mit meinem Latein am Ende. Sie steht auf "Föns", während sie auf ein Schild weist, auf dem "FÖNE" steht. Ja, Föns, denke ich, die Erdferkel"s"-Mehrzahl. Wird Zeit wieder zu tantrischen Meditationen zu zweit mit ihr unterm Fachwerkbalken-Dach-Juchhee zu kommen, denn dem jetzigen Pflegepersonal mag ich nur Trinkgeld, keine Einladung wie der schönen Brigitte mit dem Kuhaugenblick zukommen lassen. Der Geldinhalt von Mutters Blumenkarte verschwand in meiner dazu passenden Westentasche. Der etwas ruppigen Schwester Anja gab ich dann davon 8 Prozent weiter, weil ich mich so auch einmal reich fühlen kann und möchte.

Mutter lacht mich dafür irgendwie nur aus und mahnt:

"So kommst Du nie zur eigenen Wohnung, wenn Du Dein Geld so verschleuderst."

Welche Einzelheiten doch vor dem letzten Abenteuer noch zu bedenken sind, gibt mir zu denken. Bedenklich auch, daß sechs neue "Föne" im Revierpark Wischlingen letztens gestohlen wurden, in Zukunft Fön nur noch gegen Pfand.

 


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7. Servus Vater

Diese Nacht wird friedlich. "I leave You my dream", sah ich mit Uli-Bruder das Video von Oshos Sterben und Verbrennunng vom 19. Januar 1990. Das Video zeigt den Tod als festliche Feier, zeigt Pracht, Weisheit und Herrlichkeit noch im Körper des Mannes, der Puls und Herzschlag bei Bewußtsein vergehen zu sehen vermochte, und 10 Minuten später auf seinem Scheiterhaufen in einem Meer von Blumen verbrannte. So berichtet es jedenfalls sein Leibarzt Swami Anamo vor tausenden, feiernden Sannyasins.

Mit Bruder Uli herrschte endlich einmal tiefer Frieden, wunderbares Einvernehmen, daß ich ganz gerührt zu Vater gehe. Seine Schulstrapazen mit aufsässigen 10jährigen sind Knochenarbeit. Lehrer, Gefängniswärter, Ärzte, Dienstleister, die die Krankheit der Menschen zu tragen, zu heilen haben. Er sah mich zwar etwas befremdlich an, als ich seine Gattin mit seinem Kosewort und mächtigem Macho-Gehabe vertraulich zum Abschied drückte:

"Tschau, SCHNECKE!"

Was mich voll Freude in ihrer selbstsicheren Antwort die Würze ihres Zusammenlebens wieder einmal schmecken ließ:

"Tschau, WÜRMCHEN!"

"Na, bitte", bewundere ich ihren Witz, "das paßt doch prima!"

Als lieber Brösel-Bruder kann er mir sogar ein "Peace" abgeben, und verweigert gar die Zahlungsannahme. Doch mit Vaters schweigender, aber bestimmender Mimik und Gestik zwinge ich meinen grünen Schein in seine Hand. Erleichtert lachen wir über unsere albernen Geschichten. Er macht Mütterchen nach, die versucht, nah an seinem stinkendem Atmen aus seinen Lippenbewegungen und Lauten, einen Sinn zu deuten. Mir tut es jetzt schon leid, daß er keinen Video von unsern alten Eltern in ihrer letzten Phase hat drehen können. Die Komik darin käme nicht schlecht, malen wir uns heiter aus. Im abwechselnden Schnitt mit Oshos Sterben käme vielleicht ein brauchbarer Aufmacher für seine nächste Rock-Reggae Super-Klamauk-Musik-Gruppe heraus. Er verleiht als "Frontman" dem Laden mit Löwengebrüll Kraft und brächte sein Vorstadtpublikum in Schwung, wenn er denn welchen hätte.

Seine erste Martener-Reggae-Rock'n-Kamikaze-Twist-&-Shout Performance CD-ROM kommt dann gleich mit multimedialem Video in alle Kanäle, auf einen nach solchen Sensationen lechzenden Markt.

Voller Kraft von Stunden im Bad, vom Video, von fröhlichen Gesprächen in nestwarmer Geborgenheit traue ich mich an die schwere Heimfahrt ins Totenhaus. Doch dort ist angenehme Ruhe. Beide Alten schlafen. Mutter hat seine Computer-Amme schon auf 10 ml umgestellt. Eine Brösel-Banane mit edler Würze von der Muskat-Reibe mit Honig und Butter verbraten, hilft, beschwingt in die Nacht, den Schlaf.

Beim Alten zu sitzen, fällt nun viel leichter. Es riecht auch wieder besser dort, wenn man ihm nicht zu nahe kommt. Es schüttelt ihn nicht sein Vier-Sekunden Schluckauf. Gleichmäßig gehen seine Atemzüge. Ganz selten nur noch läßt er seinem Stöhnen freien Lauf. Es sieht so aus, als könnte er jetzt endlich ganz wunderbar weich hinübersegeln, sich seiner Vepflichtungen entledigen, um seine hart erarbeiteten Ruhestandsbezüge mit 10 Prozent Abschlag seiner Witwe abzutreten.

Ob Brösel oder Brinkhoff's No. 1, Bewußtsein trübende Mittel sind beides. Ich merke es morgens, wie mich ein schwerer Kopf schlaftrunken an mein Giftmischergeschäft wanken läßt, um mit Vaters Tee den schlaffen, leeren Plastiksack an seiner Computer-Amme neu aufzufüllen. Doch da Mutters portugiesische Hilfe, Frau Sandoz, den Laden ausstauben will, ist hektische Aktion angesagt. Mein Reiselager ist ja schnell verräumt. Der Tag kann anlaufen.

Schwester Ramona weiß nun soviel, daß sie hier allein, ohne Anja, anlaufen kann. Sie ist so wißbegierig wie ich selbst, der ich anfange: "Haben Sie viele PEG-Patienten?" "Nein, das ist der Einzige auf der Tour, aber ich kenne das Verfahren vom Altersheim. Es ist schon eine gute Erfindung für diese Fälle." Ich lasse ihr unerwidert ihre Ansicht. Sie will mehr wissen: "Was war er denn mal?" "Er IST Vizepräsident einer Oberpostdirektion, des hohen Gebäudes hier hinter der B1." Beamte bleiben Beamte, hat er mir beigebracht, sie sind dann eben Ruhestands-Beamte. Daher betone ich die Gegenwartsform. Vielleicht hält sie mich für beknackt, daß ich mich auf das Beamten-Ego-Spiel einlasse, aber sie fragt ganz freundlich weiter: "Ach ja, ich weiß, und warum bekommt er keine Sondenkost?" "Er will nicht," fasse ich mich kurz. Er will aber auch überhaupt nichts diesen Morgen. Das Hemd läßt er sich von der kleinen Schwester Ramona nur mit meiner Hilfe anziehen. Mutter, die beunruhigt von dem Aufstand hinzu eilt, gibt ihm gleich wieder Vertrauen. Er läßt sich pflegen. Er ist nun so schwach, daß er sich kaum noch ohne Hilfe auf die Seite drehen kann. Jede Bewegung scheint ihn zu schmerzen. Nur das Wechseln seiner beiden großen Verpflasterungen am PEG-Einlaß und Katheder-Auslaß gestalten sich zu einem Kampf mit dem Knochenmann. Schwester Ramona denkt vielleicht, daß sein Leben ohne Sondenkost eine Frage der Geldersparnis sei für uns. Jedenfalls schwingt das im Unterton ihrer Fragen mit: "Haben Sie denn jetzt die kleinen Urin-Beinbeutel umtauschen können?" "Nicht, nein? Dann gibt es dafür auch Verlängerungsleitungen." Mutter fängt auch noch mit den Beuteln an, ob die denn nicht mehr zu entleeren seien? Mir reicht's, indem ich barsch "wegschmeißen" anordne, täglich zwei reichen sie noch bis Montag. Dann können wir neue holen, "Was, zwei Stück pro Tag?", fragt noch Mutter. "Das war nur eine Rechnung mit Sicherheitsreserve," beruhige ich sie. Das Thema Urin-Beutel stinkt mir, wahrscheinlich muß ich mich deshalb intensiv damit beschäftigen. Ein Beutel kostet 73 Pfennige.

Meine Mittagseinkäufe moniert Mutter wieder mit ihren spitzen Anmerkungen: "Die Hungersnot ist ausgebrochen, die Hungersnot! Wir haben doch einen Adventskranz, wozu brauchst Du denn dann noch Blumen? Warum hälst Du Dein Geld nicht beisammen für später?" "Erstens", versuche ich gereizt für meine Ruhe zu sorgen, "ist es nicht mein Geld sondern Deins, was Du mir zum Einkaufen gegeben hast. Zweitens will ich JETZT essen und feiern, gerade, wenn es hier manchmal nicht so lustig ist. Und drittens weiß ich nicht, was später ist. Wenn ich jetzt froh sein kann, dann vielleicht auch später. Wenn es mir jetzt schlecht geht, muß ich später anfangen, daß es mir erstmal besser geht." Doch welche Mutter ließe sich in ihren Meinungen schon aus der vorgefaßten Bahn bringen? Meine jedenfalls nicht: "Du kannst doch später immer Geld brauchen, für Deine Tochter Esther. Der hast Du gerade doch erst 10.000 Mark gegeben." Wie sie da nun wieder drauf kommt, bin ich jetzt baff erstaunt: "10.000? 10 Prozent habe ich ihr gegeben!" "Ja, sind das nicht 10000?" "Nö, das sind 3000." "Ach so, das ist ja auch alles schon so lange her, daß wir das in der Schule gerechnet haben." Wohl wahr.

Doch alle Gedanken wandern ja immer wieder zum Alten in seinem Bett zurück. Sie erinnert sich ihrer letzten beiden Jahre, denkt an seine bedauernswerten Mitpatienten, die im Pflegeheim bis zu 15 Jahre in ihren Betten vegetierten. Bei diesen Gedanken sind wir beide so froh, daß er daheim ist. "Nun kommt er uns auch nicht wieder weg, und wenn ich das hier allein machen müßte", gibt sie sich mittlerweile selbstbewußt und siegessicher. Ja, sein Tod kommt als Sieger seiner Leiden und auch unserer. Deshalb bestehe ich auch auf großzügiger, luxuriöser Tagesgestaltung, weil der Kranke seine und damit auch unsere Kraft verbraucht. Denn trotz langer, tiefer Differenzen und Mißverständnisse hängen wir eben doch oder gerade miteinander zusammen. Und wir können nur die Kraft geben, die wir haben. Also muß es uns jetzt richtig gut, gut gehen. Warum soll er dann nicht auch endlich gut gehen können?

Diese Urlaubstage verlieren ihren Streß nicht, obgleich der Alte jetzt, seine drei Pflegetermine ausgenommen, keinen Mucks mehr macht. Mutter gefällt sogar unser Mittagessen, Feldsalat und Tortellini. "Nur die Krabben, die schmecken doch nach garnichts, nicht einmal nach Fisch." Aber die beste Flasche Wein aus dem Supermarkt haben wir ja auch gleich in Angriff genommen. Und der edle Stoff wirkt, wie er soll.

Schwester Anja macht mit robuster Eleganz die Mittagspflege. Sie pflegt so schwungvoll, daß sie sich gleichsam in die Hände spuckt, bevor sie den klapperdürren Greis etwas auf die rechte Seite wendet und so lagert - bis zur Abendpflege. Hygienischen Kleinkram wie anschließendes Händewaschen nach dem Job kann sie vergessen. Warum soll ich mich da auch einmischen? Schließlich sind es ihre Flossen.

Schon ist es wieder Kaffeezeit für Mutter, ohne daß ich bisher die Süddeutsche eines Blickes würdigen konnte. Mutter macht schon Pläne für den morgigen Freitag, an dem ich ruhig schon nach dem Arzttermin fahren könne. Sie will jetzt auch allein mit ihm fertig werden, verspricht sie, "schließlich kann er jetzt nicht mehr aus seinem Bett aussteigen."

Diese durchaus pragmatische, praktische Beobachtung kann ich bestätigen. Ich höre die neue '97er CD-Produktion von Coolio an seinem Bett, selbstverständlich im Kopfhörer. Er würde Coolio nicht hören wollen, weil er nämlich nie ein Freund von "Negermusik" war. Damit meinte er die "schrägen" Klänge, die uns hierzulande die "amerikanische Besatzungsmacht und Umerziehung" gebracht hatte. Vergleichbare Nachkriegs-Rituale gehörten zur üblichen Familienfolklore, als er mir das Bild eines damaligen Rennfahrers zeigte: "Siehst Du, er heißt 'Stirling Moss' nicht 'Störling', wie man überall hört." Mütterchen setzt die Folklore mit den Gemüse-'Burgern' fort, was dann die Verkäuferin im Laden schwerlich findet: "Wie bitte, was für Burgen?"

Er selbst hatte gegenüber den meisten Sinnesfreuden, seinem abendlichen Fläschchen Wein einmal ausgenommen, eine gleichsam fundamentalistisch-islamische Abneigung. Moderne Mode schien ihm immer ein Graus zu sein, wenn ich seine Anmerkungen zu einer schaukelnden Schönen vor uns richtig zu deuten verstand: "Furchtbar, ihren Arsch in enge Hosen zwängen, aber keine Suppe auf den Tisch setzen können!" Heute glaube ich, ich verstand ihn vollkommen falsch. Heute weiß ich um die verquere Bewunderung und versteckte Begierde hinter seinen Schimpfkanonaden.

Seine erste und einzige Stereoanlage landete, kaum genutzt, in einem von Ulrichs Zimmern. Zu seiner Pensionierung '71 staubte er nebem irgendeinen Bundesverdienstkreuz noch Karajans gesammelte Beethoven-Sinfonien ab, die unverkratzt, weil unbenützt bei mir und dann irgendwo endeten. Das letzte Klangmöbel, Mutters schwarzes Schimmel-Klavier, dem sie immerhin die Notenflut einer Pathétique oder des langsamen Satzes der Mondscheinsonate zu entlocken wußte, verkaufte er voller Stolz für 2000 Mark noch beim Umzug von der Landgrafen- in die Burggrafenstraße, weil die neue, kleinere Wohnung keinen Platz mehr bot dafür. Damals trennte er sich auch per Annonce von zwei Buchregalen mit juristischen Kommentaren, die auch ein größeres Sümmchen brachten. Bruder Ulrich hat als Lehrer nicht nur seinen Beamtenstatus gleichsam geerbt, sondern auch die edle Kunst des Haushaltens. Ich bewunderte ihn jedenfalls neidlos, wie er berichtete, daß er Vaters alte Dienstanzüge noch mit gutem Gewinn auf einem sonntäglichen Flohmarkt an Türken verkaufen konnte.

Mit welchen gewaltigen Kräften gesellschaftliche Konditionierungen in die Köpfe der Menschen eingehämmert verbleiben können, wurde mir wie ein Aha-Effekt klar, als uns mein geliebtes Tantchen Isolde, Mutters Schwester vom Lande, einmal eine Episode erzählte. Ich fuhr immer mit großer Freude in meinen Schulferien zu ihr auf's Land. Sie hatte dann auch Ferien. Sie war Lehrerin. Kinder-Abenteuer wie ein summendes Wespennest in einer Erdböschung oder ein Birnbaum, der in übermäßigem Reichtum mehr Früchte einfach auf den Boden warf, als ich essen konnte, blieben mir unauslöschlich in Erinnerung.

Das gute Tantchen erstaunte uns also eines Tages mit der Geschichte, daß sie manchmal, einmal im Jahr etwa in irgendein Geschäft ginge und sich ganz gedankenlos gerade noch dabei ertappen kann, wie sie im Begriff ist, den rechten, ausgestreckten Arm hochzureißen und sich den fröhlich Hitlergruß gerade noch verkneifen kann. Nicht daß das gute Tantchen irgendetwas mit Politik und den Nazis im Sinne gehabt hätte. Es war ihr einfach in wichtigsten Jugendjahren eintrainiert, gleichsam in tiefere Schichten ihres Bewußtseins eingehämmert worden. So mußte sie diese Bewußtsein-Schicht geichsam bewachen, daß sie sich nicht bemerkbar machen konnte. Der Alte muß ähnlich gelitten haben, wie hätte er sich sonst über "Umerziehung" beklagen können?

Doch erstmal muß er sich wieder über den Abendpflegedienst-Einsatz beklagen. Ein Herr mit Frontglatze, stellt sich als Herr Laschik, Pflegedienst vor. Handy und Arbeitsmappe verleihen seinem Auftritt Seriosität. Zum ersten Mal kommt einer, der gleich seine Gummihandschuhe mitbringt und vor Vaters Berührung auch gleich anzieht. Mutter stellt an äußere Erscheinungsformen noch höhere Ansprüche als ich: "Ob ich allein den Herrn Leschak, oder wie heißt er noch, hineingelassen hätte, das weiß ich ja nun nicht." Das Wort "Leschak" gebraucht sie sonst immer für eine wenig vertrauenserweckende, abgerissene Person.

Es klingelt wieder, ganz kurz und leise. "Wir sind von der Diakonie der Paul-Gerhard-Gemeinde", murmelt eine Dame mit der siegesgewissen Unterwürfigkeit gewiefter Geldeintreiber, "wollen Sie etwas spenden?" "Das glaube ich eher nicht", schließe ich die Tür vor der verdutzten Dame. Mutter ist ganz aufgeregt: "Erhard, wer war denn, was war denn?" "Ach, nichts, irgend so eine Bettelei!" "Wie? Was? Wirklich? Ausländer? Zu Zweit? Wer hat die denn wieder reingelassen unten? Gut, daß ein Mann an der Tür war."

Das leise Servus, was wir Vater sagen wollen, wird denn doch noch vom Trubel der Ereignisse gestört. Doktor Harbig ruft an: "Der Pflegedienst-Leiter ist beunruhigt." "Das kann ich mir vorstellen, denn mittlerweile sind hier etwa 30 Leute in die Sache eingeweiht." "Ja, der meint, ..."Der Herr Kunze?" frage ich dazwischen. "Ja, der Herr Kunze stellt seinen guten Ruf als Pflegedienst heraus, den er nicht gefährden wolle. Juristisch sind wir nämlich auf wackeligem Boden, juristisch könnte unsere Vorgehensweise nämlich angreifbar sein. Ich habe ihm deshalb vorgeschlagen, die Pflege in andere Hände zu geben. Doch das wollte er auch nicht, weil dann andere das Problem bekämen. Daß wäre dann ja nicht sein, sondern das Problem der andern, habe ich ihm gesagt. Nein, nein, hat er gemeint, er will den Fall schon bis zum Ende betreuen. Ich wollte das mit ihnen am Telefon besprechen, weil Ihre Mutter meist so aufgeregt ist." "Die Mutter ist jetzt sehr gefestigt. Sie steht voll hinter dem Willen Ihres Mannes und hat heute schon ganz mutig bekräftigt, daß sie ihn nicht wieder her gäbe!"

Wie bestellt treffen erst Ulrich, dann Doktor Harbig ein. Doktor Harbig untersucht erstmals Vater gewissenhaft. "Oh, er sieht aber heute abend viel kräftiger und agiler aus als am Dienstag." "Klar", bestätige ich den Befund, "denn nach dem neuen Katheder lief erstmals mehr als ein Liter blauschwarzer Urin ab. Wir hatten alle eine schwere Nacht mit nur drei, vier Stunden Schlaf." Doktor Harbig hat sein freies Wochenende verschoben, weil er doch hier in Dortmund für uns über Handy erreichbar sein will. "Letzter Zeit sind in Dortmund soviele Totenscheine ausgestellt worden, daß sich die Staatsanwaltschaft für einzelne Fälle zu interessieren beginnt. Das will ich auf gar keinen Fall, daß sich diese Seite hier noch einmischt. Vielleicht hängen wir pro Forma mal wieder eine Flasche Sondenkost hin." Mein Blick auf diesen Vorschlag läßt den feinfühligen Arzt, der mich schon in den spiegelnden Scheiben des Treppenhauses ausgemacht hat, sofort wieder davon abkommen. Wahrscheinlich habe ich ihn mit Vaters Augenaufriß angeglotzt.

Weiter meint Doktor Harbig, daß der Dienst vielleicht auch mit 610-Mark-Kräften auskomme, die mit 15 Mark pro Stunde durchaus auch in Deutschland noch profitabel arbeiten könnten. "Ja, ja," kann ich ihm zustimmen, "der Pflegedienst-Leiter Kunze macht mir mit seinem Prospekt auch durchaus einen professionellen und wirtschaftlich soliden Eindruck." "Was mich nur wundert", sagt der Arzt weiter, "wie wach Ihr Vater bei der Medikamention bleibt. Das zeigt deutlich, daß 150 Tropfen Tramadolor und 100 Tropfen Atosil eine richtige Dosierung für ihn sind." "Jetzt ist er wach, Herr Doktor, weil Menschen an seinem Bett stehen, Gleich döst er wahrscheinlich wieder, wie er es den ganzen Tag getan hat." "Na gut, bleiben wir bei der Dosierung."

Als er weg ist, ist Mutter ganz aufgeregt. "Das wußten wir ja gleich, daß das Schwierigkeiten gäbe. Was machen wir bloß? Laßt mich jetzt bloß nicht im Stich!" "Nein, nein", meint Ulrich zu der armen Frau, die am Küchentisch in unserer Mitte sitzt, "wir schieben alle Schuld auf Dich! Du hast uns angestiftet, sagen wir, wenn sie uns gleich mit Handschellen holen kommen."

Da muß die Mutter denn doch lächeln. Beim Ulrich Bruder kann sie leicht lächeln. Leider muß ich den gestrengen Teil in dieser Beziehung spielen. Denn sie sorgt sich weiter: "Dann müssen wir uns eben an die Kirche wenden, daß sie uns jemanden zu Hilfe schicken!" "An die Kirche, wie bitte?", gebe ich sichtlich gereizt und schon mit 18 Jahren 1966 von meinem Kirchenaustritt bis heute überzeugt, "die Kirche? Das hast Du doch jetzt zwei Jahre lang im Pflegeheim St. Ewaldi erlebt, wie heuchlerische Schwestern unter dem Mantel der Barmherzigkeit ihr dickes, grausames Geschäft abzogen. Willst Du wieder hin zu den Leuten?" "Ach, Gottchen nein, um Gottes willen nicht!", stammelt sie ganz entsetzt, weswegen ich ruhiger anmahne: "Gott und Kirche laß mal hier raus, die helfen hier nun wirklich nicht mehr weiter." "Ja, aber wenn's uns mal ganz schlecht geht, dann hilft Gott doch weiter!", beharrt sie auf ihrem Standpunkt, das ich spöttisch lache: "Ja, bitte, wie soll es denn noch schlechter gehen?" Das Argument scheint zu ziehen, jedenfalls gibt sie zu, daß es hier nicht mehr schlechter gehen könne.

Ulrich beginnt, ganz sanft und vorsichtig den morgigen Abend als Unabkömmlich zu erkämpfen: "Ich habe morgen den 60. Hochzeitstag. Da möchte ich mit Heike essen gehen, wahrscheinlich muß ich danach noch ins Kino." "Für den 60 Hochzeitstag seid ihr ja noch ganz gut beieinander," bestätige ich ihn, was bei Menschen allgemein gut kommt, bei denen im Sternzeichen Löwe geborenen gleich doppelt gut kommt. Wasser auf seine Mühlen helfen, gleich neues Stroh zu dreschen, also fabuliert er mit scheelem Blick auf mich: "Ja, find ich auch, andere sind da schon wieder dreimal auseinander."

"Was, 60 Jahre", lenkt Mutter ein, die selbst nur 50 geschafft hat. "Na, ja nicht ganz", rückt Ulrich die Zahl zurecht, "aber 18 werden es morgen." "Das muß ich mir gleich in den Kalender eintragen, aber was mache ich morgen?" "Mach Dir keine Sorgen, Mutter, ich fahre dann eben erst Samstag. Und Sonntag kommt Dieter dann, der mit seinen zwei Metern hier schon die Sache managen wird."

Als Ulrich geht, ruft Mutter noch nach, "ziehe gut die Haustür hinter Dir zu!" "Ja, ja, da sind neulich schon irgendwo Schaben unter der Fußmatte ins warme Haus gekommen, weil die Tür nicht zu war", will er ihr noch erzählen. Doch sie geht ins Bad ab und will das garnicht mehr hören. Schade, so kann ich auch nicht aufklären, daß die abendliche Bettelei von der Diakonie der Paul-Gerhard-Gemeinde kam. Weil sie den Laden kennt, der selbst mir damals nach Wiederholung des Konfirmationsunterrichts diese heilige Jugendweihe verlieh, hätte sie das sicherlich beruhigt.

Doch erstmal beunruhigen uns nach all den Aufregungen jetzt Vaters schmerzvoll, stöhnender Atem. Er ist jetzt, nachdem Mutter seine Computer-Amme auf 5 ml auf Nachtbetrieb gestellt hat, vergleichsweise munter. Das heißt, das er jeden Atemzug mit einem jammernden Stöhnlaut verbindet.

Mutter liegt im Bett und ist immer noch aufgeregt und verunsichert: "Ja, hätte er denn vielleicht nicht doch essen wollen?" "Mutter, Du hast ihm doch immer wieder die Schnabeltasse hingehalten und angeboten." "Ja, aber das war doch kein Essen." "Ja, glaubst Du denn er würde kauen, wenn er nicht einmal Flüssigkeiten schlucken will?" "Ich weiß ja, ich weiß ja", wiederholt sie dann für einen Augenblick von ihren Zweifeln geheilt, die bei Vaters nächstem Stöhnlaut wieder kommen.

Wenn ich an Vaters Bett gehe, und ihm gut zurede, dann ist er für eine Weile still. Sein Gesicht sieht schon ganz dunkel, fast schwarz aus. Manchmal phantasiere ich in dieses schon bis zur Fremdartigkeit verfallende Anlitz einen kleinen Schimpansen-Schädel, manchmal schicken ihm meine Phantasien einen lichten, hellen Strahlenkranz ums Haupt. Eins bliebe aber unausweichlich: Wäre ich einen Atemzug zu lange in seinen Ausdünstungen, die seinem schnaufenden Mund entfleuchen, müßte ich wieder speien. Daß er seinen Schleim nicht abhusten kann, hat Doktor Harbig schon festgestellt, daß könne er fast schon Jahre im Pflegeheim nicht mehr. "Ich setze mich etwas zu Dir", tröste ich den sterbenden, greisen Vater, "doch nun jammere mal nicht so." Er hört darauf sogar für eine gewisse Weile, als ließe er sich beruhigen. Mit der Computer-Amme erhöhe ich seine Zuteilung auf 25 ml, um ihm ein wenig mehr vom Atosil gelösten Tee zu geben. Wir haben ihm noch 100 ccm Tee mehr für die Nacht gegeben, die ich mit 10 ml Atosil versah. Das entspricht genau der Mischanweisung von Doktor Harbig.

Mutter fragt, warum wir ihm nicht nachts sein beruhigende Getränk geben. "Es ist egal, wann ich schlafe," "ja, ja mir doch auch", fällt sie mir ins Wort, "und ich denke, daß es für den Pflegedienst besser ist, wenn er tags ruhig liegt. Nachts laß ihn doch machen, was er will." Sie stimmt mir zu wie meistens, solange ich keine weiteren philosophischen Exkursionen wage: "Die Buddhisten sagen, daß Bewußtheit im Angesicht des Todes die Versäumnisse eines unbewußten Lebens aufwiegt," zitiere ich nochmals aus Jörg Andrees Eltens Buch Karma und Karriere. "Aber, aber", meint sie zu dem Zitat nur, "wir sind ja nun keine Buddhisten." Schade eigentlich, denke ich mir, aber da gibt es ja auch Fundamentalisten, die aus Buddhas sieben Sachen, die ihm zum Leben reichten, ein Regelwerk von 50.000 Verhaltensmaßregeln schufen.

Diese Leute gibt es eben überall. Doch erstmal will ich Bruder Dieter Wichtig vom Gang der Ereignisse unterrichten. Vorsichtig beginnen wir das Gespräch mit dem gegenseitigen Abtasten in der Art: "Ich wollte Dich ja auch gerade anrufen. Aber wenn ich Dich ermahne, nicht mehr so spät anzurufen, dann kann ich ja auch schlecht selbst so spät anrufen." "Ach ja, Entschuldige, ist schon so spät, stör' ich?", taste ich mich vorsichtig an sein großzügiges Löwenherz heran, womit ich wohl den rechten Ton getroffen habe: "Ist schon in Ordnung, was gibt es denn?" Aufgeregt gebe ich den Lagebericht durch von den neuen Verwicklungen, die mich, wie ich darüber erzähle, weit mehr aufregen, als mir bisher bewußt war. Damit wir hier nahtlos einander wie im Staffellauf die Fackel reichen können, erbitte ich seine Hilfe ab Sonntag, wie wir vor einer Woche schon einmal es gehandhabt haben. Doch er muß Montag seine Terminplanung für 1998 abgeben, hat aber schon den Kurs nächste Woche abgesagt, um dann ab Dienstag helfen zu können. Einen Tag muß eben Ulrich mit Mutter die Stellung halten. "Wir verstehen alle schon nicht mehr, wieso der Alte solange durchhält, der Arzt kaum und Mutters Freundin Ilona, die in den Staaten Krankenpflegerin ein Berufsleben war, verstehen es auch nicht." "Das", doziert Dieter "hat doch eine ganz logische Ursache. Er ist gewöhnt, mit sehr wenig auszukommen, hat gerudert, gewandert, sich fit gehalten." "Klar, Dieter, über seine körperliche Leistungsfähigkeit gibt es zwischen uns, glaube ich, keinen Streitpunkt. Ich selber habe dem Doktor heute noch gesagt, daß er mit 89 Jahren, 1994 noch im Frühjahr nach Italien mit dem eigenen Auto gefahren sei. Dort hat er immer im Meer geschwommen und das in 47 Italienurlauben in den letzten 24 Jahren seit seiner Pensionierung '71. Ich denke da schon eher, daß er sich ganz nebenbei und eher unbewußt geheimes Yogi-Wissen der Inder in seinem langen Leben mehr zufällig verschafft hat, was ihn noch recht lange leben läßt jetzt." Dieser sorgsam recherchierten Faktenflut mit einem Schuß Fabelei kann selbst Dieter-Wichtig mal nichts mehr entgegensetzen. Seine Frau Brigitte weiß, auch das Gute der Situation zu würdigen, daß die gemeinsame Zeit hier für uns drei viel Klarheit, gerade auch emotionale Klarheit schaffen helfe. Wohl war. Diesen Text bestätigt ihr Mann gleich noch mit guten Ratschlägen an mich: "Und hör auf, den alten Mann bekehren zu wollen. Du weißt, daß er darauf doch stets einen Groll bekam." "Ach, Dieter, der ist doch mittlerweile in einem Vorkomatösen-Zustand, sprich, nicht mehr ansprechbar. Mit meinen Bekehrungen halte ich mich lieber an Lebende wie Dich. Doch herzlichen Dank für gute Ratschläge, Du weißt ja, daß ich die immer gut brauchen kann und tschüß Alter!" "Stop! Nimmst Du das Alter nicht vielleicht besser zurück?" "Klar, was wäre denn lieber, junger Adonis?" "Na, das brauch's ja nun auch nicht gerade zu sein, aber..." "wie wär's mit 'Großer Bruder'?," helfe ich ihm aus der Pausen-Patsche. Ich höre Brigitte im Hintergrund lachen, und daß sich seine löwengroße Eitelkeit geschmeichelt gebauchpinselt fühlt, das klappt immer noch so sicher wie das Amen in der Kirche. Nach diesem aufregenden Urlaubstag muß ich mir nochmal Frischluft gönnen, weil nur ein kurzer Einkaufsgang am Morgen meine heutige Energie noch nicht verbrennen konnte. Der edle Wein vom Morgeneinkauf, Brösel oder Brinkhoff's No.1 kann ich heute im Blut nicht brauchen, in dem schon genug des Tages Gift kocht.

Für Mutter werde ich die obere und untere Tür doppelt verschließen, wie ich versprechen mußte. Morgen rufen wir einen Handwerksdienst an, um die Türe mit einer Sicherheitskette versehen zu lassen. Ein Zettel am Telefon hält notfalls Verbindung: "Bin kurz Luft schnappen, drück die Telmi-Nummer notfalls, 23.00 Uhr, E.A.S.T." Servus, liebe, alte Leutchen, denke ich gehend.


 


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8. Prost Vadda!

Das Kronen-Stübchen liegt gerade fünf Minuten entfernt von daheim. Die vorige Wohnung der Eltern bis 1990 in der Landgrafenstraße, von der ich aus stets auf den Alu verkleideten Quaderklotz der Kronenbrauerei von meinem Jungenzimmer aus geblickt habe, die neue Wohnung der Eltern und dies Kronenstübchen gegenüber dem Kiosk, alle diese Orte liegen sehr dicht beieinander. Selbst Blumen-, Milch- und Lebensmittelladen sind wie der Bäcker am gleichen Platz geblieben in den letzten 30 Jahren, in denen ich nach dem Abitur 1966 hier von der Szene wegzog. Im Gegensatz zu Ulrich, der tiefe, tiefe Wurzeln hier in Dortmund getrieben hat, bin ich mit der Szene nie warm geworden. Ich dachte immer, daß es an der Szene läge. Und wie ich in die Szene zurückkomme, scheint mir, 31 Jahre später, es hat sich viel nicht geändert, ich habe nichts versäumt hier in Dortmund.

Als ich dann ich Aachen in der Studenten-Szene mit den radikalen Zirkeln des SDS nicht warm werden konnte, und mit denen, die den Vietnam-Krieg bejubelten schon allemal nicht, als ich später selbst in der Sannyas-Szene nie recht Vertrauen und Nähe fand, und selbst auf der Osho-Ranch in Oregon, Rashneshpuram, noch von der Sheela-Gang meiner Mala beraubt und rausgeschmissen wurde, spätens da dämmerte mir, daß es nicht an den Szenen liegen konnte, sondern an mir liegen mußte, daß ich wurzellos mit unhaltbaren, provokanten Auffassungen durch das Menschenmeer torkele. Weil ich beide liebe, meine Auffassungen und die Menschen, feiere ich im Kronenstübchen meine einsame Bierrundenstunde. Auch das Bier in den 200 ml kleinen Fingerhüten, deren beständiges Füllen die Dame hinter dem Theken-U bei nur 14 Trinkern beschäftigt hält, erfüllen den gleichen Zweck wie das der bayrischen Liter-Tröge: es macht besoffen.

Vater hat kaum abends in Kneipen gezecht. Seine Flaschen leerte er daheim. In guten Zeiten köpfte er erstmal zwei Fläschchen Kronenbier-Pils, bevor er sich seinem Weinfläschchen zuwandte. Damals war er etwa in dem Alter, wie ich es heute bin. Die vier, fünf, sechs Jahre, die er da mehr trug, spielen bei 50jährigen kaum eine Rolle mehr. Ab einem gewissen Alter bleibt man eben der Depp, der man ist, und wird höchstens noch depperter, denke ich. Bruder Dieter-Wichtig habe ich in diesem Büchlein so eine Depperten-Rolle angedichtet, obgleich er in der Szene seiner Familie, seines Jobs ganz anders auftritt, ganz anders ist. Auch im verständnissvollen Gespräch miteinander spüren wir unsere Gemeinsamkeiten, die Brüder, alle Menschen verbindet, doch - blablabla - dazu müssen wir erstmal kommen.

Im Kronenstübchen ist leicht fraternisieren - beim fünften Kübel allemal. Und auf dem Kranken- und Sterbebett bleibt keinem eine andere Wahl. Dazwischen spielen wir Rollen, deren Sinn zu hinterfragen, uns keine Zeit bleibt. Oder es fehlt uns die Kraft zur Einsicht in unsere eigne, uns wenig schmeichelnde Wahrheit. Wir kleben wie Pech an den gewohnten Bequemlichkeiten, unserer Deppereien, die uns so deppert leben und sterben lassen. Nichts dagegen einzuwenden, jeder trinke sein Bier, wie's ihm schmeckt. Schön ist anders. Es läuft, wie's läuft. Doch wer 91 Jahre gelaufen ist, und zwei Jahre noch im katholischen Heim St. Ewaldi seine Miete bezahlt hat, der hat, verdammt nochmal, das Recht daheim zu verhungern, wenn's ihm so schmeckt. Und hätte er das Geld für die Miete nicht, warum sollte ihn dann St. Ewaldi in Pflege nehmen? Da können die Ökönomen und Volkswirtschaftler wie Dieter-Wichtig und Brigitte-Beamtin, schnell mal ihre spitzen Griffel ritzen, um durchzurechnen, wieviel Milliarden die Volkswirtschaft aufbringen muß, um in ihrem 90 Lebensjahr, ab 2030 etwa, die Millionen von 90jährigen mit mittlerweile 20Mille teuren Pflegeheimplätzen von der pillenknick verknappten Alterspyramide unter sich erhalten zu lassen.

Shit, Bier, Schnaps, Heroin, Koks frei zu ihrem wahren Warenwert, das wäre freie Marktwirschaft. Jeden sich umbringen lassen, wie er das will, das wäre Freiheit. Und jede abtreiben lassen, der ein nächtlicher Liebesrausch einen Samenfaden in die Eierstöcke hat schleimen lassen, das wäre Freiheit! Leben, Lieben, Lachen mit all unsern Macken, Teilen, Mit-Teilen, bringt Schwung ins Leben, eine krachende Inflation, das alte Geldpapier in Dreck zu verwandeln, sich um sein Bier wieder einen Tag abstrampeln müssen, und höchstens seinen Schuß sich frei auf Krankenschein holen mit guten Wünschen zur Besserung, das wäre das Leben, was mich des Alten Botschaften lehrten, denn wie anders soll es gehen? Die alte Dame fürchtet sich nicht ohne Grund, in ihrer sicheren Wohnung Opfer der Drogenpolitik zu werden, die die Ärmsten der Armen dem Beschaffungsdruck aussetzt, die der Biertrinker leicht noch im Kronenstübchen auf seinem Deckel abzahlt. Säßen hier Junkies, sich den Schuß auf dem Deckel abstreichen zu lassen, dann könnten sie die Zeche für ihren Spaß mit ihrer eignen Hände Arbeit zahlen. Doch wer sind die in Politik und Gesellschaft, die die Regeln aufstellen? Welche Wissenschaft steckt denn dahinter, die das Zusammenleben regelt auf diesem Jammerplaneten? Wer heute noch jubelnd den Korken zieht, liegt morgen zur Entsorgung im Pflegeheim. Und wenn heute die Borussen als Beste bolzen, liegt morgen das Land in Agonie von zerbombten Dächern oder verstrahlten Feldern. "Völlig verstrahlt", so schimpfen sie heute im Job, die sich als 30jährige in ihren 60.000 Mark Stinkschüsseln erfolgreich mit Handy feiern und doch keinen hoch kriegen, da wo's reingeht. Wann denn auch, wenn sie 60 Stunden malochen auf Schicht an der Pixel-Front auf Sohle acht, da wo heute die Gates-Bande Kohle bricht. Bekloppte Bande mit Doktor-Titel der Physik oder Chemie doch Null Peile von Wein-Weib-&-Gesang schon mal garnicht.

Alter Vadda, Du würdest Dich im Grabe rumdrehen, wenn Du es jetzt im Bett nicht mehr kannst, wenn Du die Szene sähest, die jetzt dran ist am Drücker. Aber Du warst ja auch dieser Sorte, als Du am Drücker Deiner Walther-P-15 warst als Oberstleutnant von Rußland bis Paris. Sei froh, daß mal einer aus der Art geschlagen ist, und streng Dich an, diesem Deppen die Ehre zu lassen, Dir die Augen zudrücken zu dürfen, einem Deppen wie Dieter und Ulrich, der dazu steht, daß er deppert ist. Doch wer eines Depperten Schreibe liest, ist ein Depp! Geneigter Leser! Lies weiter, das ist ein Befehl. Prost Vadda, schade, daß Dich Dein Hirn so früh verließ, aber Schwimmen in Gatteo war eben nicht genug. Und wenn ich Deine Frau, meine Mutter, free of charge, also einlade nach Poona im Frühjahr mit meiner Freundin Mimansa, sich das Leben, das Lachen, die Liebe, die "Mannchen" zu begucken, dann kann ich auch nicht mehr machen, als ihr das zu sagen und zu schreiben, ohne sie bekehren zu wollen. Das muß Mutt'chen, das alte Oma'chen schon selber machen, und wenn meine Tochter, Dank ihren krummen Beinen!, nicht abgetrieben hätte mit staatlicher Erlaubnis, dann wär sie schon Uroma, doch ich fühl' mich deshalb schon als Opa, der nichts Schöner findet auf Erden als deren Töchter.

Mensch, Prost Vadda, schade, daß Du Deinen Körper hinter Dir läßt, aber gib doch mal zu Alter, hätten wir je im Kronenstübchen uns einen hinter die Binde gießen können? Das wär ja schlimmer geworden für Dich, als meiner Tochter Mutter Gemaule, die immer am Rande des Nervenzusammenbruchs steht, wenn ich nur mein Maul aufmache und schrecklich darunter leidet, daß meine Tochter so furchtbar nach mir geraten ist. Und bevor ich hier her fuhr, habe ich schon in Briefform meinen Wunsch an Isolde, Mutter und Esther-Tochter verschickt, daß ich keine lebenserhaltende Maßnahmen wünsche, daß ich mit Kiff, Knall und goldenem Schuß lieber als Junkie im Klo krepiere als nur ein Wochenende mit katholischen Schwestern im Pflegeheim einquartiert liegen möchte, selbst wenn sie jung und aus Indien sind. Da sind mir die "Schwestern" vom Pflegedienst Hübenthal ja noch 1000mal lieber, auch wenn der Boß Kunze jetzt ja fast nur noch "Brüder" schickt, doch das ist egal.

Den indischen Schwestern bringe ich noch volles Verständnis entgegen und verstehe so vollständig ihr Monalisa Lächeln, wenn sie in betender Brunst durch die Gänge schweben, derweil Hilfskräfte von "driiiben" die Altenscheiße putzen dürfen, prost Vadda, du wärst dann auch in dem Job der indischen Schwestern, im nächsten Leben vielleicht, um nicht als indische Bauarbeiterin mit dem Baby im Straßenstaub Steine mit dem Handhammer für den Straßenbau in glühender Sonne zerkloppen zu müssen, an deren Steinstaub die Schwester elend ersticken würde, ohne daß ein Schwein von Arzt auch nur erst Steinstaublunge diagnostieren würde, weil kein Schwein von Staatsanwalt eine Obduktion der jungen Leiche anordnen würde, deren Tochter schon den Hammer der Toten zum Straßenstein-Bau-Zerschlagen schwingen würde undsoweiter....

Nur diese Weiber wie Mütter Theresa, die werbewirksam aus dem Lebensterben sich winselnde, verlorene Säuglinge vereinzelt und wahllos rauspicken, um daraus Pflegeheimschwestern für St. Ewaldi durch katholischen Hungerdrill und Bethirnwäsche zu dressieren, diese "Mutter"-Theresa-Bande soll Vater erspart bleiben auf seiner letzten Reise. Prost Vadda!

Und wenn ich dann nach fünf Pils für 10 Mark bei Kneipenschluß um 1.00 Uhr den Knappenberg raufwanke, wo mal eine wunderschöne Eva mich nach dem Konfirmanden-Unterricht oder eine andere nach der Eisbahn ihre prallen Möpse drücken ließ, was notwendig war, um sie mit dem ersten Schnee einreiben zu können, wozu sie ganz schön stille hielt, dann ist das Schnee von gestern, vergangen und macht mich höchstens noch heiß, als ich deren Töchter mittlerweile so etwa im Alter meiner Kollegin Kathrin nun begehre wie sie einst. Doch das ist alles weniger interessant als die Frage, ob der Alte noch schnauft, wenn sein frechster Sohn nach ihm gucken kommen geht. Und siehe da, er offenbart mir das Geheimniss seiner wochenlangen Hungerkunst: er liegt da ganz nüchtern im Nirwana, was nur aufgeregte Säufer am Ende der Schnapsflasche blicken, liegt da mit entspanntester Glückseligkeit und atmet in tiefster, versunkener Meditation wenige Male nur in der Minuten. Gäbe Gott, die indischen Schwestern in St. Ewaldi erlernten die Kunst! Da liegt er also in seinem Greisen-Nirwana, so selig, unschuldig und rein, daß er so gänzlich auf PEG-Sonderkost verzichten kann und ist doch satt von Glückseligkeit. Anand Sudesh, Das Wort ist mein Name, Alter, und Du gibst mir den Platz dazu, hast ihn mir geschenkt auf der Erde, und ich danke Dir dafür. Und leb' in Deinem Nirwana, so lange Du willst, und fragst Du nach Trinken, nach Essen, wir geben es Dir im Übermaß, und lebst Du so weiter, dann verzeih unser morengentliches Pflasterreißen an Deinem PEG, Deinem Katheder. Ich weiß, was das heißt für eine Empfindlichkeit, wie die Deine nun ist, die den Weltenschlag fühlt, das Licht sieht im Schwarzen, war selber im Koma, bin selber dem "Totengräber-von-der-Schippe" gesprungen. Und der Ausdruck wurde mir berichtet, als ich mir die Ereignisse danach wieder zurück klauben mußte in die Ruinen eines von Elektroschocks zerstörten Hirns in der Abteilung Erinnerung. Aber was gibt es denn schon zu erinnern in diesem gigantischen Scheißhaus Erde? Es reicht doch, den Augenblick zu überleben! Prost Vadda! Du hast es geschafft, mal wieder heut nacht, mach weiter so, bis ans Ende meiner Tage, Prost Vadda!

Was für einen Quatsch der depperte Leser sich reinzieht! Es gibt kein Ende und keinen Anfang, und es gibt lange schon kein Mein und kein Dein! Lies weiter, geneigter Leser, oder willst Du deppert sterben? Prost Vadda, Du stirbst in Erleuchtung, heiter, entspannt! Buddha Heinz aus der Burggrafenstraße! Muttchen gibt Trost, frecher Erhard gibt die Marschrichtung, Reggae-Ulli den Witz und Wichtig-Dieter die juristisch-ökonomische Stabilität. Prost Vadda! Auf die nächsten 12 Stunden! Die können heiter werden! Jetzt setze ich mich zu Dir und nehme Dich mit auf unsern ersten gemeinsamen Nachtrausch. Mein Vorwurf, daß Du mich nicht mitnahmst, laß gut sein, Alter. Ich bin eben jetzt erst mit bald 50 auszuhalten. Mensch, Alter, vielleicht machst Du's bist da noch, das wär' doch ein Fest - am kommenden Valentinstag!

Verdammte Eitelkeit des bewußtseinsarmen Egos! Mit den Gedanken ins Bett zu gehen, dreht das Mühlrad der Gedanken weiter in Richtung Geisteskrankheit, etwa der Art: "Glücklicher Alter, Du kannst dann bald gehen, derweil ich mir diese Kronenbier-Jauche durch Bauch und Hirn schwappen lassen muß, ohne die hier im Dortmund-Pott ja überhaupt nicht zu überleben wäre!" Mensch, Alter, ich versteh' Deinen Schrei, der mich raushaut in der Nacht um 2.00 Uhr, um an Dein Bett zu eilen, als die letzten Erziehungsversuche eines sorgsam sorgenden Versorgers, seinen Sohn vor wirtschaftlich, spirituellem Untergang zu bewahren. Da stehe ich mit meiner roten MacLight-Lampe vor Dir, derweil ich die Silbrige in Poona verlor, weil ich zu geizig war, sie meiner Geliebten aus Japan, Ma Bali, zu verehren, wie ihr bittender Blick drauf danach sich einforderte zu ihrem Recht, meinem Unrecht und Schmach darob, egal, eile zu Dir, und sehe, höre, rieche, spüre Dich würgen und röcheln und will dankend der Existenz für Kronenbier-Pils, Obdach, Wärme und Sättegefühl zuwinseln mein schwaches "Halleluja, ich lebe noch!" Welche Pracht Du in der Fülle Deiner jungen Jahre verlassen mußt, alter Vater, bei der Pension, da versteh' ich Dein Leiden. Versteh' Du unsere Hilflosigkeit! Doch morgen will ich dem Pflegedienst dies Sprüchlein erlernen und vorsagen mit Kraft und Würde: "Sie kommen heute vielleicht das letzte Mal. Sie kennen nicht die ganze Geschichte, und wir haben keine Zeit sie zu erzählen. Doch weil sie vielleicht das letzte Mal heute kommen, bitten wir sie, so sanft und liebevoll, wie es ihnen möglich ist, mit unserm greisen, todkranken Vater umzugehen."

So denke ich an Dich, alter Vater inmitten der Nacht, zwischen 2.00 und 3.00 Uhr, wo den Lastwagenfahrern die Todesstunde im glatt werdenden Eisland droht, weil die Müdigkeit nach ihnen greift. Ich sitze bei Dir, und fühle die Gedanken von der Existenz, dem all-einen Bewußtseins-Blabla gehen durch Dich zu mir zu dem Leser. Was ist dabei, wenn er, mein lieber Leser, die Stunden verschenkt, um eins zu sein mit Deinem Sterben, meinem Leben, der Existenz dahinter, die alles bewegt. Soviel Stunden haben wir verschenkt, was macht's denn da noch aus, sich dem Befehl zu beugen: "Lies weiter, Leser!" Doch Halt, Stop, Rot, so geht es nicht, lieber Leser, lies' nur, wenn's Dir Spaß macht. Und Spaß machen Frauen.

Wenn ich denke an sie in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht. Und wenn's die junge Ungarin ist aus dem Geschäft, die zweisprachig spricht, und Englisch singt, und verstehe doch nie die Welt dieser Frauen, die wie Mutter sagt, daß sie recht daran tat, mich nicht zu vergnügen auf unserer gemeinsamen Fahrt mit ihr nach Venedig. Was ist das für eine Mutter, denke ich bitter, die zu der hält, die den Spaß nicht feiert mit mir, der nichts kostet, und für den ich nie zahlen würde. Nicht weil er's nicht wert wäre, er wäre all mein Geld der Erde wert, blablabla, nein, weil die Bezahlung den Spaß um seine Heiligkeit entwerten würde, um das gemeinsame Wachsen, miteinander aufzuwachen.

Na ja, die Männer erzählen vieles, um das Eine zu erhalten. Und wenn sie es endlich erhalten, haben sie die Wahrheit gesprochen. Und nur um die geht es. Und der Wahrheit Lohn ist die Liebe. Und die würde Mutter mir gönnen, der süßen Kathrin, der wissend-weisen-weiblichen Mimansa dazu, wenn sie nur selbst Liebe erhielte, die wir alle brauchen, um nicht zu verdorren vor der Zeit. Daß Vaters Körper verdorrt vor der Zeit, das ist, was uns schmerzt, aber daß er die Liebe nicht fand, seinen Geist zu bewahren, das ist unsere Schuld nicht allein. Es gibt keine Schuld, es gibt keine Scham! Das ist die Wahrheit, weil das Leben nur soviel geben kann, wie wir ihm geben. Und Schuld und Scham kommen nicht vom Leben sondern von Institutionen wie Kirche und Staat. Und die kommen von erstarrten Geisteskrankheiten, wie sie sich im Bundestag in den Fraktionen manifestieren. Ich kann nichts dafür, daß ich so schelte. Es spricht die Existenz durch Vaters Diktat zu mir. Ich schüttle mich selbst, es zu schreiben, doch wer wäre ich, die Existenz in ihrem Fluß zu stopppen? Sehen wir der Wahrheit ins Auge, was zum Kunst des Sterben-Lernens gehört: wir sind Geisteskranke, die sich von Geisteskranken manövrieren und manipulieren lassen. Das muß in der Scheiße enden, wie Adolf Hitler uns 1000jährig bewies. Und hatte so recht: seine wenigen Jahre reichten für 1000! Prost, Vadda! Heil Tod! Sieg Tod! Heil Sieg! Tot Tod!

 


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9. Noch Wochen und Jahre

Schwester Ramona kommt zur Morgenpflege. Und Mutter ist fort schon. Und ich erkäre der Kleinen, was abläuft hier in der Kürze der Zeit: "Das ist sein Willen, endlich gehen zu können! Das hat mit Geld nichts zu tun hier, es ist sein einziger Willen, gehen zu dürfen!" "Ach ja? Ich dachte, sie wollten das so als Angehörige?" "Wir? Wir machen hier nur, was wir von Vater verstanden haben, wie wir ihn verstanden haben. Er hat sich seit mehr als zwei Jahren im Heim doch so gewehrt gegen seine Zwangsernährung und hat sich gestern morgen so gewehrt, daß Sie ihm das Hemd anziehen, weil er nichts anderes will als seine Ruhe!" "Ja, ja, das versteh' ich, ich komm' aus der Altenpflege. Ich würde mir selbst lieber die Kugel geben, als dort nur einen Tag zu liegen!"

Mit dieser Klarheit läßt es sich ganz anders arbeiten an Vaters Bett und er versteht sie doch so gut: "Guten Morgen, Herr Thomas, ich bin ihr Quälgeist. Ich muß Ihnen jetzt die Verbände und das Hemd wechseln, sie waschen und frisch machen. Danach fühlen sie sich gleich wohler." Und wirklich, er versteht und nickt huldvoll. "Was haben Sie denn gern gemocht, Herr Thomas?" "Wein hat er gern getrunken", antworte ich für ihn, "soll ich etwas in der Schnabeltasse bringen?" "Ja, vielleicht machen Sie besser einen Schluck auf einen Lappen, daß wir ihm die Lippen damit wischen." Ich bringe einen Teelöffel Wein im Küchentuch getränkt. Er öffnet begierig und bereitwillig seinen Mund und läßt sich die Feuchtigkeit in seine stinkende Mundhöhle tropfen. Doch den zweiten Versuch wehrt er schon ab. Über all dem Schmecken und Kauen und Schlucken dieses jahrelang vermissten Gaumenkitzels vergißt er beinahe den ziependen Schmerz, wie ihm Schwester Ramona die Pflaster abreißt. Mit so leichter und liebenden Freude ist die Arbeit im Nu gemacht. Schwester Ramona macht die Arbeit halbtags, um sich mit Mann und Tochter ihre weitere Zeit selbst schenken zu können. Doch gäbe es auch bei Hübenthal 610-Mark-Kräfte, wie Doktor Harbig vermutete. "Und der Doktor Harbig verdient jetzt auch gut am Patienten", täuscht sie sich weiter in der Lage hier. "Nein, nein, das ist überhaupt nicht einer der Sorte. Dem macht das eher Kummer und Sorge hier, und der kommt deshalb kein Mal häufiger." "Aber er kann doch auch die Telefonate abrechnen, die er mit ihnen führt hier." "Was denken Sie nur?", weise ich sie zurecht, "der ruft deswegen hier keinmal mehr an. Der fährt ein kleines Auto und kommt in einer alten Lederjacke. Das ist ein ganz anderer wie der, der ihn nicht ohne PEG aus der Klinik lassen wollte. Unser Doktor hilft nur Vater und ist selbst ganz traurig, daß er ihm nicht mehr helfen kann." Beglückt über die klare Aussprache mit der Kleinen, gebe ich ihr noch einen 50iger mit lieber Widmung: "Für Schwester Ramona mit Dank für Hilfe und Verständis 5.12.97."

Mutter kommt dafür sorgenbeladen und runzlig an den Frühstückstisch nach diesem frohen Tagesbeginn für Vater, Ramona und mich und grämt sich gleich: "Ich mach mir Sorgen, ich schaff' das nicht allein!" "Was sind denn Deine Sorgen", will ich wissen, um helfen zu können. "Ja, meine Sorgen sind die Gleichen wie Deine!" Auf den Schwenk bin ich nun nicht vorbereitet, weshalb ich in meiner aufgekratzen, fröhlichen Stimmung erstmal die Augen schließen muß, um nach meinen Sorgen zu suchen. Irgendwo weit weg, in Stunden ferner Zukunft tauchen sie auf am Horizont: "Ja, ich sehe meine Sorgen. Meine Hauptsorge ist die, daß ich nicht dabei sein kann, wenn Vater sich nun von uns verabschieden kann." "Ja, das ist es eben. Das schaff ich doch nicht allein. Und das kann noch Wochen, Monate, wenn nicht Jahre dauern. Fünf Jahre hat doch der Arzt gesagt, der im Krankenhaus sein EKG und alle Untersuchungen gemacht hat. Und Doktor Harbig hat von ein paar Tagen, gesprochen. Der kennt ihn doch garnicht. Das wußten wir doch schon, daß das nicht stimmen kann!" "Mutter, der Doktor will Vater doch nur helfen! Was soll er uns denn sagen? Was soll er denn machen?" "Ja, das ist es doch eben: Meinst Du, die werden ihn jetzt in Ruhe lassen? Die werden ihn doch wieder ernähren müssen, das kann dann der Doktor auch nicht verhindern!" "Mutter," mache ich mich stark, "wer sind wir denn? Wenn hier einer mit einer Mütze auf dem Kopf kommt und was will von Dir, dann schmeißt Du ihn ganz einfach raus! Ich muß doch nicht hier 50 Jahre alt werden, um mir von irgendeinem jungen Rotzlümmel vorschreiben zu lassen, was ich zu tun habe, oder?"

Bei ihren 77 Jahren kann sie sich nicht ganz dieser Argumentation entziehen, auf der sie ja auch ihre Autorität begründet. "Und Dieter habe ich auch angerufen." "Ja, was sagt er denn, das wollte ich schon fragen," faßt sie neue Zuversicht. "Er sagt, daß er Dienstag erst kommen könne." Sie fällt ermattet, schnaufend in ihr Rückenpolster: "Pfffhhh..." "Er muß am Montag noch seine gesamte Jahresplanung '98 abgeben. Aber vielleicht könne Ulrich mal einen Tag Dir aushelfen," versuche ich sie aufzuheitern. "Ja, ja ich muß wirklich zusehen, wie ich hier alleine zu Recht komme." "Ich kann ja in meiner Firma anrufen, um zu fragen, wie es da weiter geht," schlage ich ihr begütigend vor. "Nein, nein, mach' Du jetzt, was Du Dir vorgenommen hast. Ich muß da auch allein mit klar kommen. Aber Du räumst doch da noch auf, oder?" "Natürlich doch, Mutter", genüge ich demütigend nickend eines braven Sohnes Pflicht.

Erdferkel am Telefon ist praktisch, pragmatisch und von gesundem Egoismus. "Kneif ihm die Daumen, daß er gehen kann, damit ich kommen kann," stifte ich sie zu ihren Dreistigkeiten an, die sie so meint wie ich, voll Liebe, Achtung, Verständnis: "Dann schimpf mit ihm, daß er sich anstrengen soll!"

Doch angestengt hat er sich 91 Jahre lang und macht es jetzt unter Höchstlast nur noch dreimal am Tag, wenn der Pfegedienst kommt. Den ganzen Tag sonst liegt er im Nirwana bei tiefer, langsamer Atmung versunken, um geduldig an den Pforten des Landes um Einlaß zu harren, aus dem kein Wanderer wiederkehrt. Und er hat alle Zeit der Welt. Doch manchmal äußert er seine ihn quälende Lebenslast mit einem Stöhnen bei jedem Atemzug.

Mutter ist beim Mittag vom Wein ganz beschwingt. Die Geschichte mit dem Wein von unserer Morgenpflege hat ihr gefallen. Voller Selbstbewußtsein erinnert sie sich an Vaters Mutter, Oma Minden: "Die durfte doch auch einschlafen und mußte nichts essen. Sie hat nicht essen und trinken wollen. So konnte sie bald sterben. Was sind denn das für Leute, die ihn jetzt jahrelang quälen?" "Verrückte, Mutter, ganz einfach Wahnsinnige. Bei einem 30jährigen wäre das ja noch zu verstehen, daß er nach einem halben Jahr anders denkt über die Sache, aber bei einem 90jährigen? Nur Verrückte quälen den noch." "Finde ich auch", stimmt sie mir zu und kommt mit einem Tüchlein in Form einer Schlitzkompresse und einer Teeschale. Erstaunt blicke ich sie fragend an, daß sie es mir erklären muß: "Dies Tuch ist von ihm vorne, haben wir ja alles bezahlt. Und jetzt gieß mal hier ein bißchen Wein ein!" Ich gieße ein mit meinem Zweifel: "Oh, das ist vielleicht etwas viel jetzt." Doch sie zieht ab zu ihrem "Mannchen". Ich bin wie zu Tränen gerührt über dies Bild sorgender Liebe, was ich in seiner wunderbaren Harmonie leider nicht zu blitzen mich traue, nicht einmal durch mein Zusehen will ich das vertaute Glück meiner Eltern stören. Siegesgewiß kommt sie mit der Schale zurück und befiehlt: "So, jetzt gieß mal nach!" Ich gehorche lächelnd, damit sie ihr Vögelchen ein weiteres Mal tränken kann.

Dazwischen klingelt die starke Anja, die wir uns mit 40 Mark Trinkgeld zu erziehen versuchten, und fängt ihr Werkeln an, daß ich das Telefongespräch mit unserer reizenden Kathrin-Assistentin in meiner Firma leider unterbrechen muß. Doch der Chef will zurück rufen. Also löse ich Mutter als Pflegedienst-Gehilfe von Schwester Anja ab und ihr tut mein Zuspruch gut: "Ja, seit halb Sieben bin ich unterwegs, elfe morgens, das ist jetzt der Fünfte mittags." Ich will sie nur ablenken, daß sie Vaters Weinfahne nichts erschnüffelt, der sich von den ungewohnten Genüssen im Schluckauf windet. Ich stelle seine Computer-Amme auf 5 ml zurück, was ihm Linderung verschafft. Mutter kann ihm nach dem Mittagsschlaf wieder die volle Dröhnung reindrehen, dann hat er abends länger von seinem Liter und tobt nicht rum auf Nacht.

Jetzt liegt er da, rosig, rasiert, massiert, mit einem Erfrischungstuch eingerieben, schnauft glucksend seinen kleinen Weinrausch vor sich hin, und Mutter verabschiedet sich in den Mittagsschlaf. "Nun beruhig Dich auch mal ein bißchen, Du bist ja ganz aus dem Häuschen," ermahne ich sie sorgsam wie eine 7jährige Tochter, nicht wie meine 77jährige Mutter. Und es ist ja auch kein Wunder, daß sie so aufgedreht ist. Schließlich habe ich ihr mein halbes Weinglas auch noch hingeschoben. So mahne ich weiter: "Autogenes Training, das ist auch nicht schlecht!" "Holle Piep!", gibt sie nur kiebig abgehend zurück, was heißen soll, daß ich den Schnabel halten soll.

Und der mittäglichen Philosophien sind genug gewechselt über das Glück, über das Sterben, das ich zu üben empfehle in jungen Jahren, wie ich es versuche seit 20 Jahren. "Aber wie paßt das dann zu Deinem Glück, das Du immer willst?" "Das ist das Gleiche. Kann ich jetzt glücklich leben, kann ich vielleicht glücklich sterben." "Aber das weißt Du ja nicht." "Natürlich nicht. Ich weiß nur, ob ich jetzt glücklich bin. Das reicht, Das ist genug. Bin ich jetzt glücklich, habe ich die Chance, den nächsten Augenblick glücklich zu sein. Und irgendein Augenblick ist dann mein Letzter, den bin ich dann vielleicht auch glücklich."

Na, das Lebensterben wird so natürlich für mich, daß ich erstmals an seinem Bett meinen grünen Tee trinke, um bei ihm sein zu können in seinen schnaufenden Stöhnlauten. Ach, schalte ich ihn wieder auf 33 ml Liter Tramadolor-Atosil-Tee-Gemisch hoch. Dann können wir vielleicht alle im Haus unseren verdienten Mittagsschlaf im Urlaub genießen!

Gerade als ich wegdösen kann, weckt sie mich mit dem leisen Zuziehen der Tür. Also erhebe ich mich wieder, um als erstes zu hören: "Ich trinke nie wieder auch nur einen Tropfen Alkohol." Es ist halb Drei, Schnee treibt vorm Fenster, Kerzen brennen, die erste im Adventskranz. Versöhnlich werfe ich ihr vor, daß sie zu kurz geschlafen habe. "So schnell kann niemand seinen Rausch ausschlafen." "Wieso nicht, wie lang habe ich denn geschlafen?" "Fünf Minuten," was für mich stimmte.

Es klingelt. Ich öffne und künde an: "Schnecke und Würmchen kommen." "Wer?" "Schnecke und Würmchen!", beharre ich. "Die lassen wir nicht rein, die kenne ich nicht", schließt sie schnell die Tür. Ich rede gut zu, öffne sie wieder und Heike kommt mit ihrem Ältesten Jimi. "Ach, es ist garnicht Würmchen" berichtige ich mich. "Es ist Jimi." Der darf zwar die Wasserkiste tragen, sonst hat er aber nichts zu sagen. Bei seiner starken, dominanten Mutter hat er keine Chance, auch nur einen Pieps zu wagen. Fragen an ihn, beantwortet sie schneller, als er überhaupt nur einen Gedanken fassen kann. Aber sie ist auch ganz aufgeregt und glücklich, weil sie ihren 18jährigen Hochzeitstag feiert. Ich beglückwünsche sie zu ihrem Durchhaltevermögen mit diesem Holzkopf, meinen Bruder, ihrem "Würmchen." Galant versuche ich mich ihr als Ersatz anzudienen, wenn es mit der Abendeinladung nicht so klappt. Sie kokettiert gern und scherzt: "Ich glaub', Du bist nicht ausgelastet." Könnte Recht haben, die Frau. Warum haben Frauen immer Recht?

Die skurilen Szenen, die wechseln am laufenden Band, bringen mich zum Lachen. Mutter beschwert sich bei Heike über mich: "Der lacht aber auch dauernd! Am Lachen erkennt man den Narren!" Heike weiß wohl nichts so recht mit dieser Weisheit anzufangen, weshalb ich lachend den Spruch umdrehe: "An der Trauer erkennt man den Weisen!" "Schon eher," erfreut mich Mütterchen und fragt in mein Lachen: "Was ist das schon wieder?" "Ein verrücktes Weltbild" antworte ich. Ich könnte das hier bis zu meinem Ruhestand in 15 Jahren durchziehen, wobei nur das Eine eben fehlt noch. Komisch nur, denke ich, daß mein Chef hier garnicht mehr anruft. Ob ihm Vaters Sterben auch schon zu lange dauert? Sind drei Wochen Urlaub hart für die Kollegen? Oder schmerzt sie die Lektüre von Teil 1 der Geschichte?

 


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10. Santhara

Das indische Wort habe ich in der Osho-Lecture heute abend aufgeschnappt. Max räumt mir den Videorekorder frei, damit ich die eindrucksvolle Lesung vom 30.11.84 in Rajneshpuram verfolgen kann. Weil seine Eltern, Ulrich und Heike, ihr 18jähriges Hochzeitsjubiläum feiern, herrscht die Stille im Haus, die Verständnis und Zugang zu Osho erleichtert. Santhara ist eine alte Tradition der Jaina-Mönche, die sich ihr mörderisches Seelenheil damit schufen, sich zu Tode zu hungern. Die Lecture paßt also.

Osho klärt die Zusammenhänge anschaulich von den sado-masochistischen Religionen und ihren komischen Heiligen. Der Idiot, der in Alexandria 30 Jahre auf einer Säule saß, schlief, aß und sich entsorgte, fehlt so ebensowenig wie seine Tante, die sich mit Naturheilverfahren zu Tode therapierte. Gandhi ist ein weiteres Beispiel der sado-maso Gewalttätigen, die mit ihrem Hunger gegen ihren schwächsten Teil, ihren Körper vorgingen. Die masochistische Komponente ist die hungernde Gewalt gegen sich, die Hitler sadistisch in der Quälerei von Millionen befriedigte.

Mir gehen die Muslim-Soldaten Saddams durch den Kopf, die mit einem Aluschlüssel in den Krieg zogen. Ihr Heldentod versprach ihnen den direkten Weg zu Allah. Doch all das geht jetzt zu weit, wird mir zu langwierig, verliert Reiz und Spannung für mich. Ob mir die Sterbehilfe hier selbst noch weiterhilft, wird mir zunehmend fraglich. Wenn meine Hilfe mich leerbrennt, dann kann ich nicht mehr helfen. Ich habe das Gefühl, besser mich wieder um meine Angelegenheiten zu kümmern, um mich.

Mutter sagt, daß sie jetzt auch alleine klar kommt. Gut wäre es wirklich für sie, in der schwierigsten Stunde des Todes, allein ihm zu helfen. Sie wird dabei wachsen, um sich selbst helfen zu lernen. Mit kindischer Hilflosigkeit kommst Du schlecht weiter im Leben und Sterben.

Der Diesel draußen steht gewaschen startklar. Schnee und Kälte machen es zudem notwendig, daheim nach dem Ofen zu sehen. Erdferkel Mima sieht wie Eva-Maria diese letzten Liebesdienste an den Eltern als vorrangig an, aber mein Gefühl rät mir anderes. Ich habe gelernt, auf meine Gefühle zu hören.

Dies Büchlein wird auf jeden Fall mit dem Tod als Schlußstrich enden. Der ist nur noch ein Datum. Wieso der hüstelnde Alte noch atmet, ist wohl auch Doktor Harbig unheimlich, der mit Mutter telefonierte. "Alles unverändert," meinte sie, dabei rieche ich, wie sehr er innerlich gleichsam verfault. Ich habe schon ein Fenster in der Küche geöffnet, daß dieser Pesthauch abziehen kann. Seit dem 27.11, also seit 10 Tagen hat er keinen Stuhlgang mehr gehabt.

Ich werde also wieder gen Süden dieseln. Es soll weder Bitterkeit noch Hochmut das Schreiben schließen, doch bitterer Wahrheit nicht auszuweichen, ist der Sinn der Wahrheitssuche. Also schreibe ich die Gewißheit hin, daß ich mir von letzter Weisheit, letztem Willem, letzten Worten des Sterbenden nichts erwarte. Das, was er geben konnte, hat er gegeben, wie ich ihm gab. Es bleiben noch Schwingungen, die uns durchdringen. Und sich dafür zu öffnen, brauche ich die feine Wachheit liebevoller Versenkung. Und die ist nicht an gemeinsame räumlichen Nähe gebunden. Also fühle ich mich frei, zu gehen.

Mutter ist stark in meiner Gegenwart und wird die Stärke bewahren, weil ihr keine andere Wahl mehr bleibt. Und das ist gut so, daß sie sich entschieden hat, zu wachsen und vielleicht zu erwachen.

Vater hat mich durchdrungen mit seiner Ausstrahlung, seinen Anschauungen, seinen Werten. Eine gütige Fügung hat dem Fundament weitere Mauern wachsen lassen, in denen sich mit Behaglichkeit auskommen läßt. Buddha war hauslos sein langes Wanderleben lang und war dennoch bei sich zu Hause. Seine äußeren Wände, diese dünne Haut überm Fleisch und Knochengebälk mit Blut, Gallen-, Blasen- und Magensäften darin muß jeder mehr oder minder schmerzvoll hinter sich lassen. Wenn wir ein Bewußtsein haben, das uns mehr noch bleibt, als unsere Kinder verkörpern, müssen wir uns auf den Weg danach machen. Der Weg ist die Suche, die Suche das Ziel. Wer in diesen Seiten Resonanz davon spürt, wird selbst seinen Weg finden. Wer auf dem Weg ist, ist nicht mehr allein: Meilensteine und Wegweiser machen ihn mit jedem Schritt gewisser, sicherer, froher.

Meinen Brüdern, meinen Lesern, allen, die vom Baum der Erkenntnis, vom Lebensterben wissen und lernen wollen, werden bald bessere Mittel finden, als dieses Schreiben vermitteln kann. Aber der Anfang, der schwer ist, ist schon gemacht. Wie es weitergeht, entscheidest Du selbst. Wer auf dem Weg ist, kann nicht mehr zurück, weil nichts mehr befriedigt, weil Du nicht verstehst, wie Du Dich lange mit Ersatzstoffen trösten und belügen konntest. Die Droge Wahrheit ist die einzige Sucht, nach der Du Dich noch sehnst. Zu dieser Droge zu finden, ist es niemals zu spät.

Selbst dem röchelnden Vater kann die ihm gütig fügende Existenz noch die Erkenntniskrone des Unermeßlichen zuteilen, wenn er hinübersegelt denn dereinst. Diese Worte sind Krücken für den krüppeligen Geist, das geifernde oder gute Gefühl auf dem Wege zur Wahrheit. Sie sind nicht die Wahrheit, die Worte nicht erreichen. Wahrheit ist hinter Worten, hinter Lebensterben, hinter Bewußtsein, hinter Glück, Liebe, Leid. Wahrheit ist nur ein Wort, was gewählt sei für das Unendliche, das uns verbindet. Nur noch wenige Atemzüge trennen den armen Alten nebenan von seiner körperlosen Erkenntnis. Und wie die jeder erreicht einst, daß entscheidet er selbst jetzt im Leben.

Daher hat die Existenz diesen in Euch verwachsenen Vater eingewoben in die Seiten, daß ihr lest, lest und weiter lest. Im Lesen zu verstehen, gehört mit zum Schwersten. Doch es zieht Euch, endlich auf den Zug zu springen, der fährt zur Unendlichkeit. Deshalb habt ihr gelesen. Wenn Ihr in Fahrt kommt, dann gibt es kein Halten. Die Existenz stellt Euch die Weichen, vertraut ihrem Weben, sie sorgt für Euch. Auch für Vater ist gesorgt und läßt er sich fallen, dann ist er daheim.

Sein frei und kristallklar erkennbarer Wille, sich alterskrank zu Tod zu hungern, zeigt, wie sehr selbst Nahrung zur Last wird, wenn Du zur letzten Wahrheit willst. Vater hat spät mit der Suche begonnen, da wurde der Weg ihm sehr steil, kurz und hart. Schmerzlicher Kleinmut klang klagend bei manchen Abschnitten aus jedem Atemzug, doch dann wieder stärken ihn Pausen von Nirwana, die er zuvor noch nie kannte. Das gibt ihm die Kraft, die uns alle erstaunt und manchmal sogar erschreckt. Doch es ist alles in Ordnung, er geht dahin, wie er will, kann, ihm bestimmt sein soll. Es gibt keine Trauer, nur Freude, Stolz, Zuversicht, jetzt und danach. Wer sich den Weg erleichtern will, fängt früher an, hat jetzt angefangen, und verläßt ihn nie mehr. Dann steigen Deine Chancen, daß Du die Augen so schließt, wie Du Dir das wünschst. Dann hast Du reich gelebt!

Was Du bisher gemacht hast, war es das schon? Hast Du den Mut, Vaters stinkendes, jämmrig-jammerndes Elend in seinen Windeln zu sehen? Es ist Deine Zukunft, in die Du siehst.

Kannst Du jetzt schon die Augen öffnen für die Wahrheit oder willst Du es später, später - dann aber auf einen Schlag? Willst Du Dich weiter verkriechen in das Schloß Deiner vier Wände mit dem Riegel aus Alkohol, Fernsehunterhaltung, Deinen großspecherischen Worten, Dein Ego zu zelebrieren? Halbtote leben hinter verschlossenen Herzen ihrer Rechthaberei und die Funken von Leben, die sie erfreuen, reichen nicht aus zum Sterben, zum Leben. Dein neues Auto, Deine neue Geliebte, sie kitzeln Dich für einen Augenblick, danach fällst Du zurück in den Trott eines halbtoten Bettlers. Die Fahrt an Deinen Urlaubsort, Dein erstes Ferienbad weckt Dich für Stunden, dann badest Du wieder mit dem verschrumpften Verstand eines halbtoten Bettlers. Dich so zu sehen, fällt niemandem ein, solange Du zahlst. Und solange Du zahlst, stellt Dir auch niemand Deinen Dich folternden Lebensbrei ab, Deine Sondenkost.

Die Mutter, die Brüder, Verwandte und andere mögen verdutzt sich fragen, warum sie das nun wieder haben lesen müssen, wenn sie es überhaupt gelesen haben. Wir haben diese Anstrengung auf uns genommen, wie ich die des Schreibens, um ein Stück mehr unsere Sinne zu nutzen, die Wahrheit unsers Lebensterbens zu sehen. Diese fünf oder Nullkommafünf-Prozent, die wir von der Wirklichkeit wahrzunehmen bereit sind, sind zuwenig. Wen so unverbereitet der Blitz der Wahrheit weckt, dessen Kartenhaus aus Sicherheit, Besitz, Stolz, Dünkel kracht fast lautlos zusammen. Du vergehst wie eine Spur im Sand.

Santhara, der freiwillige Hungertod der Jaina-Mönche, ist für uns das sado-masochistische, vergnügungssüchtige Rennen nach den Waren, den Sicherheiten, der Sucht nach Beliebheitsgeraden, der übliche, alltägliche Wahn eben, in dem Du stirbst ab 20, 30 Jahren. Und mit 50 bist Du eine scheintote Leiche, die sich qualvoll und schockartig von ihrer Pseudoreligion ihrer geliebten Annehmlichkeiten lösen muß. Du hast im Dreck gelebt, und Dein Leben war einen Dreck wert. Das erkennst Du spätestens dann, wenn Dir der Tod die Rechnung schreibt. Warum Du so blind und jahrzehntelang in Deinem Hamsterrad Dich müde laufen wolltest, das zu erfahren, liest Du noch immer. Doch Du liest mit Schmerzen, Du liest, weil es Dich schmerzt, Dein heilig-gehaltenes Ego vernichtet zu sehen und mit ihm all das, was Dir heilig war. Nichts bleibt, nichts.

Am Grab belügen sich blind trauernde Narren mit lächerlichen Redebausteinen von einem erfüllten, langen Leben und Leiden, das der Tod erlöste. Das gesteltzte Blabla blubbert weiter von lebenslanger Pflichterfüllung, den verdienten Auszeichnungen, der Achtung der Nachwelt und dem ganzen bunten Brimborium mit Schingderassassa, Böllersalut, Fahnen schwenkendem Gleichschritt. Mit der schönen Leich' feiern sie wieder die eigene Lüge und merken es nicht, wollen es nicht merken. Doch sie werden es merken, jeder muß es merken, weil die Wahrheit jeden packt, einpackt.

Wer in diesen Totenhäusern der lebenden Leichen seine Sachen packt, bleibt immer ein Verräter. Wer ausbrechen will aus dem kollektiven, sado-masochistischen Santhara-Tod, die Sinne sich bei lebendigem Verstand auszuhungern im Uhrwerk seiner kleinlichen Alltäglichkeiten, dem keift der Fluch der Zurückgebliebenen nach. Wer die Geist- und Wahrheit tötende Vernichtung nicht will, dem droht Vernichtung. Das sind die schwarzen Schafe, die nicht mitgehen in den Schlachthof ihrer Massenvernichtung wie Lemminge! Wer nicht vom Genuß der lebendigen Wahrheit, die überall verfügbar ist, die sich in allem offenbaren will, ablassen will, wer sich nicht blenden lassen will von der kollektiven Waschmaschinen-Propaganda im Goebbels-Stil des zahnpasta-strahlenden Nachnazi-Terrors, dem hängen bald Fahnungsfotos nach, zumindest gesellschaftliche Ächtung, finanziell-materieller Exitus. Doch was sich lebendige Leichen als täglichen Leichenschmaus unter der hauchdünnen Maske von geheuchelter Freude und Sicherheit einverleiben, macht sie nicht satt. Winselndes, stinkendes, röchelndes Elend folgt dem Fest, sicher wie das Amen in der Kirche, der kollektiven sado-masochistischen Schmerzenschau am Kreuz, ein seelisches Verhungern, wie der Santhara-Tod den Körper des Jaina-Mönchs aushungert, stirbt der am Kreuz, der der Wahrheit, dem Lieben, dem Lachen nicht folgt. Wer will, folgt nach. Und es wollen fast alle! Da ändern diese Zeilen so wenig daran wie die Botschaft von Vaters Tod.

Mehr, als Mutter nach Mannchens Tod mit Mima nach dem Abbau ihrer Weihnachtsmarkt-Hütte nach Poona zu laden, kann ich nicht tun. Will sie ihr Leben in Ibiza oder Teneriffa neu gestalten, ist das besser als nichts. Mehr, als den Brüdern und ihrer weiblichen Aufsicht, ihren Frauen, mit diesem bunt bebilderten Urlaubsbuch einen Reiseführer in das unbekannte Land zu schreiben, kann ich nicht machen. Reisen müssen wir alle alleine.

Wenn ich das nächste Mal kommen kann, wird der Alte tot sein. Doch lebt er weiter, wie Du es liest, lebt in mir, wie das unvergängliche Leben in allen gleich weiter lebt. Das die Totenfeier eine Pflichtveranstaltung sei, wie Uli meint, mag stimmen für ihn. Wer lebt, bestimmt sich selbst Pflicht und Lust. In Wahrheit, Wachheit, Bewußtsein zu bleiben, wäre des Lebensterbens Verpflichtung, meine ich. Wo Du dies machst, bleibt unwichtig.

Schwester Ramona kommt spät um 10.00 und befragt den Alten nach dem Nikolaus - 6. Dezember. Das letzte Bett beziehen wir ihm, derweil sie von den Ausgaben in den Heimen erzählt, die, wenn alles private Vermögen verbraucht ist, das Sozialamt übernimmt. Das, was ihre Schwiegereltern machen, kann Mutter sich als Tip noch mitnehmen. Diese haben alles Vermögen versilbert und in Schließfächern deponiert, wonach kein Hahn kräht. Sie verbrauchen ihr Geld, soweit sie es schaffen. Und schafft sie vorher das Leben ins Heim, dann soll die Versichertengemeinschaft sehen, wie sie mit den Kosten zurecht kommt.

Vater ist bei unserem munteren Gespräch ganz ruhig geworden, so daß Schwester Ramona erschreckt an seinem faltigen Hals nach dem Herzschlag in der dicken Ader tastet. "Hat er keinen Puls mehr?," frage ich hoffnungsvoll, sie tastet, fühlt, wartet, schließt selbst die Augen, bis sie erleichtert aufatmet: "Ich hab ihn wieder, er schlägt noch - ganz schwach." "Ja, ja," winke ich gelangweilt ab. "Er meditiert jetzt wieder für Stunden." So gehen wir lachend aus seinem Wartezimmer. Sie wechselt abschließend noch den Urin-Einwegbeutel: 900 ml hat er abgeführt, 100 ml verdampfte er schwitzend in Kissen, Decken und Laken. Die Rechnung geht auf.

Mutter kommt nach ihrem Morgenspaziergang mit ihrem Stöhnen, das sich wie Verwünschungen, wie gemurmelte Hexen-Flüche anhört in ihrer gebetsmühlenartigen Litanei: "Der schreibt schon wieder! Ihr habt's gut! Ihr habt's gut! Ihr habt's gut!" Und genau den gleichen Satz höre ich Montag morgen wieder in der Firma von 30jährigen Junggreisen mit gleichem vorwurfsvollen Tonfall, gleichem klagenden Sado-Maso-Gehabe. Santhara, sie hungern sich seelisch zu Tode bei lebendigem Leib. Da könnt ihr, Brüder Wichtig, am Telefon löwengleich brüllen. Der Tod sitzt Euch als Laus im Pelz und ihr juckt und sucht an den falschen Stellen.

Derweil mein Blabla hier verblubbert, kommt meiner Tochtes neues nach auf der Karte an

"Liebe Oma,

in einer Zeit, in der die Tage immer kürzer werden und so die Sonne nur selten unter uns weilt, ist manchmal nicht leicht zu dem eigenen, inneren Licht zu finden.

So sollten die Kerzen des Adventkranzes für das im inneren verborgene Licht, welches auch jeden Tag auf Neue angezündet werden sollte, stehen. Denn aus diesem Licht können wir jeden Tag neue Kraft und Freude schöpfen."

Danke, liebe Esther-Göre, für Dein schönes Schlußwort, Danke von Vadda, Großvadda und -mutter.

Mutter sorgt sich, daß nur noch zwei Vorlagen, Windelmatten der Größe 60 mal 90 Zentimeter im Haus sind. Also renne ich los, dankbar ihre beiden Hunderter an die Stirn mir pressend, wie arme Inder Geld begrüßen. Ich bringe einen riesigen Blumenstrauß für 40 Mark mit, der sie aufregt: "Du willst mich nur ärgern! Ich geb' Dir kein Geld mehr, wenn Du kommst! Das macht doch nur Arbeit!" Der edle Wein ist ihr schon willkommner, weil sie Väterchen auch damit tränken wird, so er will und kann. Ich drücke sie noch: "Fang an mit Ibiza, Tennerifa," was sie schon weiterbetet: "Ich weiß - und auch Indien, mache ich alles!"

Ich wollte, es wär so! Laß es Dir gut gehen, alte Dame! Wozu willst Du Deines Lebens späte Herbst-Geld-Früchte nicht selbst verspeisen? Die Wichtig-Brüder haben ohnehin längst genug. Dein frecher Erhard, das ist nicht ausgeschlossen, kauft Champagner für süße Frauen, die sich in die Höhle von Walroß und Erdferkel trauen. In die Höhle hat sich Bruder Dieter-Wichtig noch nie verirrt. Vielleicht erinnert ihn mein Hinterhaus an sein eigenes Elend wie das Sterben des Alten an den eigenen Tod? Egal, ich pflege Dich trotzdem, Bruder Wichtig, wenn Du danach verlangst, nur macht mir die Mutter nicht traurig mit ewig-gleichem Sado-Maso-Gewäsch! Mutter soll alle Jämmerlichen mir schicken, habe ich sie gebeten, und mich als Spezial-Entertainer für jämmerliches Elend angepriesen.

Versäumt habe ich nur, daß ich den auf kleinster Atemflamme nur noch minimal pulsierenden Opa nicht noch mit dem großen Blumenstrauß so gekitzelt habe an seiner spitzen, roten Nase, daß er mich zum Abschied nicht nochmal mit einem Adrenalin-Schub aus seinen blauen Kuller-Kinder-Augen hätte verjagen können. So hat er in seinem Vorkoma nur genickt, als ich froh brüllte: "Gute Reise, Alter, ich fahr' jetzt und komm Dich nicht mehr ärgern." Sein stummes Nicken war mir schon genug. Verdammte Bescheidenheit! Ich hätte ihn noch mal wecken sollen! Jetzt ist er mir nie mehr ausgeliefert. Er dagegen kann weiter durch meine Träume geistern. Da hätte ich ihn wirklich noch abschließend die wippenden Asperagus-Federn in seinen dürren Nasen-Rüssel schieben sollen, vorbei, Alter, aus! Du hast nur einen Millimeter genickt in Deinem Traum, um mich so zu verabschieden als den gutmütigen Deppen, den Du nie für voll genommen hast. Na, mit ähnlichen Gefühlen scheide ich von Dir, was ich schreiben darf, da Du noch lebtest. Später dann: "De mortibus nihil, nisi bene", Sprüche der Hölle gibt es seit Jahrtausenden zu jeder Gelegenheit.

Dann bin ich schon wieder 300 Kilometer weiter, Richtung Bamberg, auf kahlen Sommerreifen meines luzifer-rot-metallic-Turbo-Diesels, den ich nach einer ahnenden Alptraumnacht gleichzeitig mit Vaters Hirnschlag im August '95 als Vorführwagen kaufte. Wohl bald zwanzigmal habe ich die Kombi-Kiste zu den Eltern gejagt, wobei die Stinkschüssel 9,5 Liter bei Vollgas säuft. Zur Arbeit bescheidet sie sich mit etwa 6 Litern. So kamen 120000 Kilometer in der Kürze der Zeit zusammen und damit kommt der fällige, erste Zahnriemenwechsel.

Mutter muß ich noch ausschimpfen am Telefon, daß sie mich ohne Kaffee fahren läßt, oder besser noch, ich lasse Mimansa aus Bamberg klagen: "Warum läßt Du mein armes Mannchen ohne Kaffee auf die Autobahn? Wenn er dort einschläft beim Rasen, oh Gottchen!" Mutter braucht diese Art von Liebesscherzen, weil sie erstens nichts anderes kennt und zweitens dann zu Höchstform aufläuft.

Auch muß ich noch bellen, daß sie die Blumen, wenn nicht für sich, so denn für die wechselnden Pfleger hegt. Sie sind dann schon entspannter, wenn sie in ihrer Pflegedienst-Akte seinen Zustand ersehen vor einem Strauß roter Rosen mit weißen Lilien. Und was wollen sie denn noch mehr von ihm? Er hat 900 Milliliter abgeführt!

Und wenn die Wichtig-Brüder dann in der Küche sitzen, sollen sie den Heidsiek-Champanger aus dem Kühlschrank nehmen, den Korken knallen lassen und ganz, ganz langsam sich in immer lauteres Lachen steigern. Es war der schönste Urlaub des Lebens, danke Vater und Mutter, danke Brüder Wichtig, danke Doktores, danke den Pflegern. Jetzt wartet Mimansa darauf, ihre krummen Erdferkelpfoten in Richtung Fachwerk der Dachbalken zu strecken.

Mutter verabschiedet mich und schimpft schon wieder mit ihren Wertungen zu uns Verliebten in Bamberg: "Ihr seid kindisch-&-närrisch". Das ist ein gutes Zeichen, wenn sie ihre Erziehungsaufgabe wahrnimmt. Es geht ihr damit gut. Und schließlich bin auch ich an ihren kabarettische Klamauk gewöhnt, der sich ebenso hier durch die Seiten zieht wie in Ulrich Rock'n-Reggae-Twist'n-Shout-Kamikaze-Schau.

Wörter, Sätze und Seiten sind wie Steine aus dem Felsgebirge des Lebens gebrochen. Das Leben läßt sich weder in Buchstaben, noch in Wörter fassen, nicht in Gedanken, nicht in Gefühlen. Das Leben ist größer als Tod und Geburt, wenn es Bewußtsein wird.

Was wir dazwischen so treiben, sind Späße am Rande, herrliche Wonnen, jämmerliche Leiden. Die dreieinhalb Stunden, die der Diesel nach Bamberg jagt, wobei nur ein Kompressor-Daimler und ein 16-Ventil-Opel schneller waren, habe ich mir in einer ärgerlichen Stadt-Irrfahrt weit über das Ziel hinaus um eine viertel Stunde verlängert. Gerade an den wichtigen Kreuzungen der Stadt verfingen sich die Gedanken, daß ich wieder an der andern Seite hinaus fuhr, anstatt das Zentrum zu treffen. Doch etwa noch eine Stunde blieb mir mit Erd- und Zierferkel in der duftenden Weihnachtsmarkthütte, wo ich unter dem Gekicher der glücklichen Frauen noch Kerzen und gebrannte Tonhütten für weit über 100 Mark verkaufte.

Danach sind wir im Mittelalter-Hüttchen von Dr. Reinhald Neukum herzlich willkommen, rühren Brösel-Tee an, den wir zu dritt glücklich schlürfen. Beim Abendessen erzählt Dr. Neukum vom Lebensterben seiner Patienten. Er versteht den Aufstand nicht, den der Pflegedienst machen kann. "Der Arzt muß nur deutlich erkennen, daß hier nicht habgierige Erben das Ableben des Patienten beschleunigen wollen, um an sein Geld zu kommen." Das Thema verliert ohnehin unter der Wirkung von Brösel-Tee und Erdferkels Gequiek an Interesse. Schließlich steht schon ein geiler Viertelmond am Himmel, das Futter ist gut, die Schleusen stauen volle Lust.

Doch ich weiß es schon vor dem Beginn, daß ich verloren bin in ihrer weiblichen Unendlichkeit, daß ich erschöpft und leer aufwachen werde, und sie kaum noch ertrage morgens wie leere Flaschen nach dem Rausch rings um Dich rum. Schnaufende Nächte, Held in der Nacht, zitternde Knie und wacklige Stelzen am Tag. Erdferkel lacht nur über meine mißmutige Garstigkeit. Sie weiß sich bestätigt in ihrer weiblichen Allmacht. Wahrscheinlich genießt die süße Schlampe, daß ich mal wieder bezwungen bin von meiner Gier, die mich bewußtlos zurückläßt, mich mit Schlaf zu heilen. Vielleicht kam mit meinem kleinen Tod Vaters Großer, denke ich noch einschlafend.

Der Morgen danach hat Schnee wie Schwamm drüber geschmissen, doch Erdferkels Frohsinn reizt meinen stumpf gewordenen Schwachsinn. Sie spricht besser erst garnicht mit mir! Während sie in ihrer Lagergarage, die früher zu ihrer Wohnung gehörte, aus der ich sie in unsere Höhle mitnahm, während sie in ihrer Garage also die Gasflasche von ihrem Marktofen tauscht, Ware nachpackt für den kaufstarken Sonntag, lasse ich mir in der Morgenkälte den kalten Matjes aus Dortmund in den Schlund laufen, wie Seehunde nach Fischen schnappen zur Futterstunde im Zoo. Der Fisch ist genauso kalt und schlaff wie ich. Mit einem viertel Liter Brinkhoff's No.1 aus dem Autoladeraum spüle ich das kalte Eiweiß in meine Eingeweide hinunter und fühle die Tierkräfte sich wieder regen in mir, die das Erdferkel an meiner Seite fühlen muß, um brav bei der Stange zu bleiben. In unserm Geschlechter-Ringen fühle ich mich schon deutlich wieder auf der Verlierer-Seite, was wohl mein Schicksal zu sein scheint wie das aller Männer.

Wie sehr ich verloren bin, merke ich im Hofcafé in der Austraße, nahe beim Bamberger Weihnachtsmarkt. Zierferkel, die geladen war zur gemeinsamen Frühstücksfeier, sagt telefonisch ab, Erdferkel nervt mich mit Fragen zur Prozentrechnung, die sie bei ihren Warenanlieferungen nicht begriffen haben will. Und ich begreife nicht, was es dabei nicht zu begreifen gibt. Und sie meckert, daß ich schreibe, und beginnt mich an meinem Nasenrüssel zu ziehen mitten im Café. Ich kriege die Rasewut, die sie glucksend glücklich begrüßt, daß ich sie durch dicke Pullover und Schafwollwäschehemden ins Speckfleisch zu kneifen beginne, das ist's, was ihr Spaß macht.

Doch irgendwie verhilft die gütige Existenz ihrem Blondinen-Balzen zur Erkenntnis, daß ich Ruhe brauche von ihr, und so entschwebt sie motzig: "Ich sage, daß Zierferkel kommen kann zum Frühstück und hier gute Unterhaltung hat mit Dir!" "Sag' ihr das," belle ich zurück, "und sag' ihr weiter, daß das nicht zu ihrer Arbeitszeit gehört und daß Du nicht zahlst dafür." Da zieht sie dann endlich ab, und ihre Tage hat sie auch noch bekommen in der Früh, was soll ich mit der denn - in dem Zustand auch noch? Doch gäb es sie nicht, wär ich arm dran. Weiber!

Ärger gesucht und gefunden und so geht's dann gleich munter weiter, als Eva-Maria, Ex-Ehefrau No. 2, die "Urlaubsfotos" mit dem sterbenden Vater zwar lustvoll lächelnd betrachtet, "oh, so sieht der jetzt aus, ist ja gruselig", doch als sie das Bild von Mima im Mieder auf Knieen unter den Fachwerkbalken breit grinsend sieht, vergeht der frustrierten Lehrerin schon wieder die Lust und sie jagt ihre Kinderbrut empört aus der Küche: "muß das denn jetzt wieder sein!" Mir ist nicht nach versöhnlichem Getue zu Mute, weswegen ich nur noch Öl ins Feuer gieße: "Was regst Du Dich denn schon wieder auf, Alte?" Und ich verstehe das wirklich nicht, was es an einem schönen Frauenbild Schlimmeres zu sähen gäbe als an einem sterbenden Opa.

Also ziehe ich mich in Frieden mit Esther-Tochter in ihr Zimmer zurück, wo wir den alten 486er mit viel Mühe in diesem Jahr aufgebaut und ans Internet gebracht haben. Ich zähle 2500 Mark in kleinen Scheinen hin, die mir Mima von ihren Markteinnahmen geliehen hat. 500 Mark habe ich schon am Samstag vom Postgirokonto am Nürnberger Bahnhof abheben können. Mehr Geld gab's da nicht mehr auf Karte ab 13.30 Uhr, nach Geschäftsschuß. Jetzt hat sie ihren Anteil von Mutters Geschenk und kann sich hoffentlich mit ihrem Duo bald wieder selbständig durch die Stadt bewegen, wenn sie Lust hat dazu.

Nach kurzem Aufenthalt in Nürnberg geht es wieder auf die Bahn Richtung München. Die vier Front-Lichter eines silbrigen Daimlers 230 E jagen mich, der ich ihm in Vollgasfahrt die Bahn von den BMWs und anderen schwerfälligen Fahrzeugen frei blinke. Nach etwa 100 Kilometern auf Höhe Allershausen fahre ich zum Pinkeln an den Rand, womit die 60.000 Mark teure Karre vorbeiziehen kann. Was der Daimler mehr an Pferdestärken hat, frißt der Kraftverlust des Hinterradantriebs zu etwa 20 Prozent, denke ich.

Daheim hat der Ölofen auf kleiner Flamme durchgehalten, daß es noch 14 Grad in der Ein-Raum-Wohn-Küche sind. Ich lade aus, drehe den Ofen auf, setze mich an den PC, überspiele den Text vom Psion-Palmtop und arbeite nun an der 92. Seite in meiner klassischen DOS-Text-Verarbeitung Word 5.5, die mir die Liebste geblieben ist im Versionswechsel-Wahn.

Briefkasten und Anrufbeantworter sind voll, dies Büchlein ist mit seinem Inhaltsverzeichnis fertig, doch es fehlt nur der Schlußakkord, Vaters Totenschein. Morgens, beim Anruf vom Weihnachtsmarkt Bamberg hat er noch gelebt. Schwester Ramona hat mit Ulrich ihm sein Morgenbett gemacht, sein Hemd gewechselt. Lebt er jetzt noch, abends um 6.00 Uhr?


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11. Happy End und Rückblick

"Er sieht so zufrieden aus", sagt Mutter am Telefon. "Ich werde jetzt so gut mit der Situation fertig. Ich gehe sogar einmal um den Block, dann gucke ich oben wieder, ob alles in Ordnung ist. Ich danke Dir auch noch vielmals für alles, was Du angeschleppt hast. Die Duftlampe habe ich jetzt immer an, sie macht ja so einen schönen Geruch." "Gut," erwidere ich, "ich habe schon neue Duftfläschchen vom Weihnachtsmarkt Bamberg von Mima geholt, die schicke ich Dir gleich." "Ja," fährt sie munter fort "Ilona hat auch angerufen und war ganz verwundert und meinte: Du hörst Dich ja direkt glücklich an. Ich habe gesagt, glücklich kann man nicht sagen, aber.." "Das gehört sich ja auch nicht, Mutter", falle ich ihr ins Wort, "glücklich sein, gehört sich nicht." Sie lacht zurück und fährt fort "ich werde ganz gut mit der Situation fertig. Ulrich hat ja auch keine Zeit, doch besser wäre es noch, wenn Du da wärst." "Gib einem Hungrigen einen Fisch, und er ist satt für einen Tag, lehre ihn angeln, so wird er satt sein Leben lang." "Ja, ja, so ist das," stimmt sie dem afrikanischen Sprichwort zu, "ich muß ja jetzt auch alleine klar kommen." "Ja, das kommst Du jetzt auch, und denk auch an Ibiza und Teneriffa!" "Ja und an Honolulu und wie die Orte alle heißen." "Mutter, vergiß das Wichtigste nicht!", mahne ich. Doch wenn sie nicht selbst daran denkt, rede ich nicht mehr davon.

Soll ich lieber in die Stadt fahren, wo sich Sannyasin einen Folgeplatz nach abgelaufen 15 TAO-Jahren ansehen wollen? Vielleicht hat Ma Vimal Prem Zeit zu dem Treffen, Ma Anand Sambhavya wollte sicherlich kommen.

Doch daheim bleiben meine Dinge unerledigt liegen: Esthers Dezember Unterhalt, 550 Mark, muß ich ebenso überweisen wie Strom, 132 Mark und 600 Mark Krankenversicherung. Doch das Konto ist voll vom Weihnachtsgeld. Und wofür soll ich Geld ausgeben, habe ich nicht alles?

Mache ich also meine Überweisungen und schicke Mutter die versprochenen Duftfläschchen mit nur einem kurzen Absatz aus dieser Arbeit: "Die Glückseligkeit, von der wir schmecken durften in den uns schnell vergangenen, drei Wochen habe ich bei Euch, liebe Eltern, mehr ver- als gelernt. Dafür danke ich Euch, daß diese Startschwierigkeiten mir mit auf den Weg geholfen haben. Die Glückseligkeit verdanke ich der geistigen Leitung, die Dich zu finden weiß, wenn Du darum bittest. Doch wahrscheinlich muß ein jeder am Ende sein, bevor er um Leitung bittet.

Auf dem Wege zum Glück brauchen Deine Sinne Glücksnahrung wie Essen Dein Körper, der das Tor zur Seele ist. Mit zur best verdaulichen Glücksnahrung zählt die Musik für mich. Ich weiß, daß sie Dir auch sehr gut bekommen würde. Eine Stereo-Anlage haben wir hier noch, die ich Dir bei meinem nächsten Besuch gerne aufstellen würde.

Dein Sohn und Swami Anand Sudesh

Der Name weist den Weg, denn er sagt: Sucher nach dem wunderschönen Platz von Glückseligkeit!"

Sie wird den Sinn dahinter sehen. Als ich das erste Mal nach seinem Schlag kam, gleich im August '95 mit dem noch neuen Auto, da habe ich ihr eine Stereoanlage gekauft und aufgestellt. Sie wollte das Gerät mit den geheimnisvollen Lichtern nicht. So steht es nun bei Esther. Wie schwer wir es uns damals noch gemacht haben, zeigen die beiden Briefe vom Winter '96, bevor ich nach Poona abdüste:

" Sonntag, 10. November 1996

Liebe Mutter,

jetzt schreibe ich am Abend, um Dir meine Indien-Reise verständlich zu machen. Ich weiß zwar nicht, ob Du Zeit, Lust und Verständnis hast, zu lesen, doch will ich es dennoch versuchen.

Die Arbeit strengt mich nun schon seit mehr als sechs Jahren an. Ich habe auch diesen Samstag fast nur Kopfweh gehabt, heut erst am Sonntag ist es besser. So will ich also wieder einmal raus aus der Arbeitsmühle. Auch ist mein Rücken ganz verkrampft. Ich sehe mich schon einen Buckel wie Vater bekommen - vom "Buckeln". Das ist ein anderes Wort für Arbeiten.

Also will ich nach Indien fliegen. Der Flug ist das Teuerste. Wer in Indien ist, kann preiswert Urlaub machen. Ich will die Zeit lange ausdehnen, damit ich den angesammelten Jahresurlaub 1996 endlich abbauen kann, damit sich die Flugkosten von 1555 Mark rentieren. Morgen spreche ich mit dem Chef darüber. Der Reiseplan geht vom 17. Dezember bis Ende Januar 1997.

Vaters Erkrankung ändert wohl auch nichts in den Familienangelegenheiten, in der Art, wie wir die Dinge sehen. Du kannst mit Ulrich gut alles erledigen. In Ansammlungen von Dingen sind die Thomas ja ganz gut, in der Abwicklung ordnungsgemäßer Abläufe auch. Ich fühle mich da überflüssig. Ich möchte mir selber Rat und Klarheit über das Leben holen, was ja gleichsam meine "Spezialität" zu sein scheint.

Die Zeit an Vaters Bett habe ich in ruhiger Versenkung sehr genossen. Auch die Spaziergänge sind wunderschön mit ihm. Die vielen Reisen nach Dortmund haben mich allerdings auch zusammen mit den Arbeitsfahrten ermüdet, so daß ich mir den langen Urlaub gönnen will.

Ulrichs Scherze gefallen mir im Moment wenig. Sein einziger Kommentar zu meiner Reise war so zum Beispiel: "Hast Du Dein Testament gemacht, daß ich Deine CDs bekommen kann?" Er wird seine "Bettelschale" nie voll bekommen. Aber daß mit der "Bettelschale" ein anderer Ausdruck für das Verlangen nach Dingen gemeint ist, versteht er leider nicht.

Na, so sind die Scherze eben unter sich liebenden Brüdern. Jeder sieht zu, wie er genug bekommt. Jeder hat unterschiedliche Wünsche.

Wenn wir die Rechnungen lesen und an Vaters Beispiel verfolgen, was allerdings auch Krankheit und Sterben kosten, kann man ja in der Tat nicht genug Geld auf Seite legen. Allerdings frage ich mich, wenn ich Vater dann betrachte, ob er nicht eine andere Ansicht zu den Dingen mittlerweile hat. Ich meine jedenfalls, worin mich Moni auch bestätigt hat, daß er ja in seinen letzten Monaten noch sehr viel an Verständnis, Gefühl und Einfühlsvermögen erringen konnte.

Ohne diese Fähigkeiten bleibt das Leben ja trotz aller Güter armselig. Auf der Suche auch nach solcher Wahrheit reise ich nun also wieder nach Indien, wo eine lange, jahrtausendealte Tradition in der Suche nach dem Selbst besteht. Viele Geschichten berichten, daß diese Suche nicht vergeblich bleibt.

Auch erhoffe ich Erkenntnisse, die in Krankheit und Sterben hilfreicher sind als letzlich Geld und Gut. So könnte ich zwar meinen mir zustehenden Urlaub auch nutzen, um mit Stephanie Veet Mimansa auf ihrem Weihnachtsmarkt in Bamberg noch etliches zu meinem Gehalt hinzu zu verdienen, doch die "Reise zu mir Selbst" ist mir mehr wert. Mimi ist ja mit mir fast zum selben Zeitpunkt damals in Poona zu OSHO gekommen. Also versteht und unterstützt sie meine Reisepläne von ganzem Herzen. In zwei Wochen nimmt sie Urlaub von ihrem überaus anstrengenden Briefträgerjob. Diese Arbeit zeigt, wie Arbeiter ausgebeutet werden. Denn sie kann ihre Arbeit fast nie in acht Stunden schaffen, muß oft 12 bis sogar 14 Stunden Briefe, Kataloge und dergleichen auf ihrem gelben Postfahrrad zu den Postkunden bringen. Daß sie dabei meist heiter und froh bleibt, zeigt ihre große Kraft, Ausdauer und Beständigkeit. Wir haben viel Spaß in unserer seltenen Freizeit.

Mach Dir also um mich keine Sorgen, ebensowenig um Vater. Sorge Dich besser einmal um Dich selber. Schon die Lektüre von "Wahrheitsbüchern" kann den Menschen auf eine neue, glücklichere Fährte bringen. Auch wenn Du nach all den Jahren und Jahrzehnten Dir wahrscheinlich nicht viel anderes vorstellen kannst, als was Du bisher gemacht, gesehen und erlebt hast, liegt es doch letzlich an uns selbst, was wir aus uns machen. Ich hoffe für Dich, daß Du mit Deinen 76 Jahren noch Lust auf Neues hast, daß Du Dich also nicht mit Deinen Anschauungen und Sorgen bis zum Ende quälen mußt. Hoffentlich verhilft Dir die Leidenszeit mit Vaters Abschied zu neuem Lebensglück.

Nach meiner Indien-Reise werde ich auch diese Dinge und Zusammenhänge wieder klarer, von einem neuen Blickwinkel aus sehen können. Jedenfalls hoffe ich dann auch, Dir wieder in Deinem Leid besser beistehen zu können. Es wäre wahrscheinlich nicht einmal "Leid", wenn Du Dich auch einmal auf die Suche nach Dir selbst machen würdest. Jedenfalls denke ich, daß hinter diesen Ereignissen Teile von uns unberührt und heiter bleiben können, wenn wir diese tieferen Schichten unseres Selbst besser kennen würden. Ich suche danach.

Die Übernachtungen in Ulrichs Material-Museum lenken mich davon derzeit ebenso ab wie Deine Tränen oder das ewige Kümmern um die Seiten unserer Zeitung. Zu Dieter, der mit drei Immobilien wohl wegen anlaufender Herz-Rhythmus-Störungen aus seiner Festanstellung ausschied, oder zu Brigitte, die wohl schon eine Krebs-Operation hatte, habe ich kaum noch Kontakt. Es sind da wohl keine gemeinsamen Anküpfungspunkte mehr gegeben, was dann wohl auch nicht weiter schlimm ist. Ob sich mit Ulrich oder auch Dir eine ähnliche Entfremdung abzeichnet, bleibt abzuwarten. Es wäre jedenfalls schade, wenn nicht tief betrüblich im notwendigen Erfahrungsaustausch der Menschen, die sich als Verwandte als beste kennen.

Inwieweit Du bereit bist, meinen Brief zu lesen und zu verstehen, bleibt Dir nun selbst überlassen. Jedenfalls kannst Du Dir wahrscheinlich genug Zeit und Muße zur Lektüre nehmen, bis wir uns wiedersehen.

Doch vielleicht sehen wir uns ja auch noch einmal vor meiner Abreise. Vielleicht bist Du aber von Deinen Problemen so eingenommen, daß es Dir schon fast wie eine Zumutung vorkommen muß, einen so langen Brief mit anderen als Deinen eigenen Gedanken zu lesen.

Doch ich halte es für meine Schuldigkeit als Dein "frecher" und Dich liebender Erhard, Dir "reinen Wein einzuschenken". Reisen sind kleine Trennungen. Die größte Trennung bleibt der Tod. Doch darum muß niemand groß Tränen vergießen. Der Tod ist so natürlich wie die Geburt. Vor der Geburt kommen Liebe und Sex, ebenso natürlich wie Sterben nach dem Leben. Das ist alles ganz einfach. Wer dies ganz einfach zu sehen, zu leben verstünde, wäre wohl schon das, was die Weisen "erleuchtet" nennen. Doch wir hängen an Gedanken, Tränen und Freuden wie an schlechten Filmen oder alten Komödien. Das bleibt sich gleich, denke ich. Wer oder was wir hinter unseren Gedanken, Tränen und Träumen sind, bleibt das Geheimnis. Das Geheimnis wollen die Wenigstens erforschen. Mir ist nichts anderes wichtiger. Wer das Geheimnis versteht, weiß zu leben und zu sterben!

So freue ich mich, meinem ersten Indien-Trip vor 20 Jahren mal wieder einen weiteren anhängen zu können: 1976 allein, 1981 mit Eva und Esther, 1991 mit Ute, 1993 mit Monika und jetzt mal wieder allein.

Ich denke nicht, daß wir uns dabei weiter entfernen und entfremden. Wenn ich mich besser verstehen lerne, kann ich ja auch andere besser verstehen.

Not macht erfinderisch. Du bist in seelischer Not. Vielleicht fällt Dir da ja mal etwas Anderes, etwas Neueres ein, als zu heulen. Das sei Dir natürlich auch als gute Erleichterung gegönnt. Vielleicht fällt Dir zum Beispiel ein, mit nach Indien zu reisen. Doch dann mußt Du mich schnell anrufen, weil die meisten Flüge über Weihnachten schon ausgebucht sind. Doch wo ein Wille, da ein Weg.

Da Du allerdings schon Schwierigkeiten hattest, einen modernen Radio-Apparat in Betrieb zu nehmen, stellt Dich eine Indien-Fahrt vor vielleicht noch größere Probleme. (Es gibt wieder Nachbauten vom "Volksempfänger", Baujahr ab 1933. Wäre das besser für Dich?)

Doch vielleicht könnt Ihr ja gemeinsam an ein sonniges anderes Winterziel fliegen. Ulrich hat sich für Isolde und Dich ja schon als Reiseführer angeboten.

Es kann dabei nur besser werden, meint zuversichtlich

Euer E.a.s.T.!"

Nach dem zweiten Brief war Mütterchen damals für mich nicht mehr zu sprechen. Das Geschenk, die Kerzenschlange gab sie gleich Heike weiter. Nach meiner Rückkehr aus Poona besuchte ich sie sogleich im Januar '97, und sie war wieder versöhnt:

"Fürstenfeldbruck, Sonntag, 24. November 1996

Hallo liebe Mutter,

schon wieder schreibe ich. Denn ich will Dir und Isolde vor meiner baldigen Abfahrt in drei Wochen noch von Mimansas Weihnachtsmarkt liebe Kerzengrüße schicken. Die runde, sogenannte "Jerusalem-Kerze" soll für Isolde, die Schlange für Dich brennen. Ich schreibe auch daher lieber, weil damit Gedanken klarer zu ordnen sind. Beim Sprechen mischen sich ja noch leichter Gefühle wie Freuden oder Ärgernisse in den Fluß der Gedanken, womit zum Schluß dann oft das Wichtige, was man sagen wollte, unerwähnt bleibt. Daß Dir zudem mein Sannyas-Name "Anand Sudesh" seit 1981 entgangen ist, verstehe ich bei Deinen durchaus im langen Leben begründeten auf bewährtem verharrenden Urteilsvermögen, nur daß Du bei meinen Anrufen als alte Oma noch immer Dich in Deine Baby-Sprachzeit "ERHARDCHEN!" zurückfallen läßt, macht das Telefonieren für mich jedensmal zu einer neuen Zerreißprobe von Langmut und Geduld. Da nach Deinen Freudesausbrüchen meist keine 30 Sekunden später dann die Tränen ob Deines schweren Leidens fließen, fällt mir der Gedankenaustausch am Telefon nicht gerade leicht mit Dir. Vertrau Dich also diesem schriftlichen Trost an, den Du nun auch nicht wieder heulend ernst nehmen mußt. Aber wenn es Dir denn Spaß, Erleichterung und Befriedigung verschafft, zu heulen, wünsche ich Dir eine Packung guter Tempo-Taschentücher.

Seit heut morgen um 11.00 Uhr ist meine Gefährtin Mimansa nun auch zu Ihrem Weihnachts-Markt-Aufbau nach Bamberg gefahren. Sie nutzt dort ihren Jahresurlaub für ihr Geschäft, wovon sie ja die letzten 10 Jahre als Selbstständige gelebt hat. Da ich also nun drei Wochen gleichsam Ruhe vor ihr habe, habe ich Zeit zum Schreiben.

Ulrich war nun ob seines Scherzes, in meiner auf Indienfahrt eventuell zu erwartendem Ablebens meine CDs erben zu können, den er nun in einem Brief an Dich wieder lesen mußte, um seine Reputation als hilfsbereiter Vormund der väterlichen Belange äußerst besorgt. In einer Flut von Karten und Briefen brachte er sein rührendes Besorgnis um seine Belange zum Ausdruck, wovon Du ja auch in Deiner schweren Leidenszeit aufs Beste versorgt und umhegt Dich fühlen kannst.

Doch ich denke, daß wir Brüder ohnehin längst darüber hinaus sind, irgendwas vom andern ernst oder anzunehmen. Wozu auch? Macht ja jeder sozusagen im Blindflug seine Lebensplanung, ohne etwas Genaueres von sich selbst, geschweige denn andern zu kennen.

Nur in einem ist sich jeder ja absolut sicher, daß er das Beste aus seinem Leben gemacht hat, oder es gerade mal wieder so macht. Darin haben wir ja alle Vaters große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit geerbt, die uns selber zum Maß aller Dinge macht, wonach sich bittschön unsere Mitmenschen zu richten haben! Mit Vaters Lernfähigkeit bis ins hohe Alter gepaart, können wir uns somit im Leben immer die Orte und Menschen aussuchen, die unser Raster leidlich erfüllen, die uns also genehm sind. Sollten gewisse Selbstzweifel dabei bleiben und uns aus der fest geplanten Bahn werfen, sichern ja genügend aufgehäufte finanzielle Ressourcen zumindest Aufenthalte in Anstalten aller Art ab.

In einer Familie, die es bis heute nicht geschafft hat, mir die Todesursache des Bruders Heinz zu berichten, bleibt ohnehin klare Aussprache ein rotes Tuch, dessen Anblick die einzelnen Familienmitglieder je nach Temperament und Veranlagung zu Wut, Tränen, Witzen oder Schweigen veranlaßt.

Und die Frage meiner Tochter, ob ich auch so sterben möchte wie Vater, bleibt im Alltagsgeschäft ohnehin unwichtig, da sie nicht ansteht. Zwar endet das Altern zwar bislang bei den Meisten, die nicht das Glück haben 'gen Himmel aufzufahren, mit dem Tod. Doch Gedanken darüber sind ja dann wohl erst angebracht, wenn die Dinge des Lebens für sich und die Nachfahren geordnet sind.

Da es nun in den meisten Familien die Aus-der-Art-Geschlagenen gibt, gleichsam die "Schwarzen Schafe", mögen mir die wenigen bissigen Anmerkungen zur Familien-Chronik gestattet sein. Ohnehin ändern diese Sätze ebensowenig wie andere auch, da ja jeder, wie schon ausgeführt, ohnehin am Besten weiß, was gut und richtig für ihn ist und wie seine Planung für die nächsten Jahrzehnte auszusehen hat."

Wenn wir das jetzt nach einem Jahr wieder lesen, können wir, denke ich, gemeinsam lachen darüber. Bald lachen wir nur noch! Mein letzter Brief an Ulrich ist älter als ein Jahr, danach habe ich es für zwecklos erachtet, ihm noch zu schreiben, den Bruder Dieter-Wichtig konnte ich ohnehin vergessen:

"Fürstenfeldbruck, Donnerstag, 28. November 1996

hallo u,

daß mein kleiner bruder mich am telefon abends noch blöd anblökt, bin ich nun noch nicht stark genug, in gesetzter ruhe zu ertragen.

Doch mutters heulender rückfall in unselbständige kindertage kann dich noch nervlich teuer zu stehen kommen. Vater habe ich seit etwa 30 jahren versucht, von jüngerer, lebendigerer sicht, impulse zu geben. Vergebenes liebesmühen. Das sterben beginnt, wenn die menschen nichts neues mehr verstehen können, wenn sie die suche nach der wahrheit aufgeben.

Pflegeheim ist laut definition endstation. Dort verwahrt die gesellschaft die sterbenden, die daheim nicht mehr zu pflegen sind. Die dauer des sterbens macht daraus auch kein leben mehr. Manche menschen sterben eben 5, 10, 20 oder 50 jahre lang. Der tod tritt bei manchen eben auch in teilen ein, wie du dort im heim siehst oder bei gurdjeff liest.

Du kannst die tatsachen zwar verleugnen oder verdrängen, nur holen sie dich irgendwann und -wie wieder ein. Besser wäre es bewußt mit den tatsachen zu leben, weil du sonst dem prozeß sterben völlig unvorbereitet gegenüber treten mußt.

Dabei mußt du loslassen, was du jeden augenblick üben kannst. Damit wäre dieser kräfte verzehrende verschleißkampf um unnützes vermieden. Der hinwendung auf das wesentliche würde auch der freude und lebenskraft neue flügel verleihen.

Wie du von mutters reaktion auf deine geplanten dachgelder erzählt hast, sind bei mir schon alle warnlampen angegangen. Auch ihre ablehnung der stereo-anlage ging schon in die richtung, daß sie nichts neues will. Ihr gewohnter weg aus verdrängen und selbstbelügen soll wohl weiter gehen. Diese lebenshaltung sieht alles, außer sich selbst, die wirklichkeit, was zu reden von wahrheit.

Die faschistische tradition lehnt mißliebige gedanken, briefe, bücher ab, zerstört sie. Atavistische, also uralte verhaltensweisen bestrafen den überbringer der schlechten nachricht. Die innere zensur filtert jedwede abweichung des anerzogenen normwert-gefüges aus. Daß dieses normwert-gefüge schon seit mehr als 2000 jahren die menschen in immer größere entfremdung, meint trennung von wahrheit, wissen und damit glück führt, haben spirituelle meister seit allen zeiten und in allen regionen gelehrt. Wenn 99 prozent der menschen dennoch weiter sich ihren von vornherein zum scheitern verurteilten ego-trips ausliefern, wenn die erde, die menschen in immer größere katastrophen schlittern, ist das ein zwangsläufiges resultat.

Vaters sterben in geistiger umnachtung mit wachsender intuition, wachsendem gefühls-verständnis für seine nächste umgebung könnte ein schlüssel für suchende sein. Es sind mir zumindest unglaublich schöne, ruhige und tiefe augenblicke von versenkung und glück an seinem kranken-, besser sterbebett zu teil geworden.

Schon allein diese meine sicht tritt im familiären zusammenhang wie frühere ansichten auf schärfsten widerspruch. Wie gleichsam vater jede kritik, jede anregung, jeden anderen blickwinkel ohne weitere prüfung aus dem anerzogenen korsett seiner vorurteile mit äußerstem wutgehabe niederschrie, gleichso setzt sich diese tradition im verhalten seiner frau und seiner söhne fort. Auch ich bedaure, daß ich nicht weiter bin.

Wie es schon kritischen und wachen geistern äußerst schwer fällt, über sich selbst, über ihr denken sich klarheit zu verschaffen, so bleibt der gemeinschaft der 99 prozent das weltbild des massenwahns wie zum beispiel der profit- und gewinnmaximierung, des bestens in der konkurrenzsituation, des hab-&-gut anhäufens und mehren, des haste-was-biste-was, der schönen-reichen, der jagd nach genuß und lust. Drogensucht versinnbildlicht dieses auf den augenblick fixierte glücksbestreben ohne rücksicht auf verluste.

Kritiker des weltbilds unterliegen kollektivem haß, be- oder unbewußten morddrohungen. Die in familien und gesellschaft früh sterbenden wollen und können sich den maßstäben des beschriebenen familiären- und massenwahns nicht anpassen. Ihr sterben wird von der gemeinschaft gleichsam organisiert, gewünscht und oft auch erreicht.

Mir hat das koma 1971 nicht zum frühen tode reichen können, wie es meinem halb-bruder heinz bestimmt war. Somit setzt ihr euch noch solange mit meinen gedanken - zu eurem größten bedauern und ärgernis - auseinander, wie ich dafür zeit und energie bereit bin zu geben. Doch indem ich dinge erkläre, werden sie auch mir klar.

Schon greifen dabei wieder die beschriebenen brief-zerstör-aktionen. Doch die gedanken bleiben euch, weil sie nicht zu zerstören sind. Und je wahrer sie treffen, umso größer reagiert der haß.

Für mich bleibt dabei in der tat gar keine andere wahl, mich nach indien zu "verpissen", wie du am telefon dir es wünschtest. Was soll ich hier, wo meine briefe zerrissen, meine gedanken wie anwesenheit unerwünscht und störend sind? Daß ich schuld und sündenbock für familiäres unbehagen an gedanken sein soll, sehe ich mit bald 50 jahren nun auch nicht mehr ein. Entweder sind gedanken falsch, dann sind sie in aller ruhe zu widerlegen. Oder die gedanken sind richtig, dann kann man sie für eigene erkenntnis nutzen. Das niederschreien unliebsamer wahrheiten - oder auch lügen - zeigt nur gleichsam die tollwut des stieres, der auf ein rotes tuch reagiert. Die menschen suchen sich die gesellschaft, die ihre anerzogenen vorurteile nicht mit gleichsam roten tüchern verbotener gedanken reizt. Daß in der stunde der wahrheit, wie dichter das sterben nennen, die konflikte im hause thomas mit der üblichen front-bildung wieder aufkochen, zeigt eben, daß die konflikte nicht gelöst sind. Ich fürchte auch, wie ich an den reaktionen sehe, daß es überhaupt kein interesse dafür gibt, diese konflikte zu lösen. Wahrscheinlich siehst du sie garnicht. "der spinnt mal wieder", ist dann die kollektive antwort der "normalen".

probleme, die bleiben, sind wie die, die noch kommen, immer auch die, die gemacht sind. Ich habe mir die mühe dieses und der vorigen schreiben gemacht, um mit der mir erreichbaren, ungeschickten art von liebe die dinge anzusprechen, aufzuzeigen.

Wenn das sterben vaters allerdings kein sterben ist, eben nur ein etwas anderes leben, wenn mutters tränen eben die übliche bewältigung von alltag und anstrengung begleiten, dann sind ja auch meine sätze nur das übliche "spinnen". Dann ist die aufregung auch wieder nichts ungewöhnliches, der sechste Indien-Trip ein üblicher Urlaub zu Weihnachten. Was soll dann also die Aufregung?

Es fällt mir schwer, vaters stechende augen auf dem bild mit meinem hut zu betrachten, zu wissen, daß meine rede ihn nun gleichsam nur noch in einer anderen welt erreicht, auch ein ausdruck der dichter für sterbende.

Es ist dann der trost, denke ich, aller unverstandenen, daß verständnis sich eben in der nächsten welt oder für die nächste welt einstellt.

Hiermit will ich diesen versuch abschließen, dem verständnis zwischen den welten eine brücke aus worten zu bauen.

Love

e.a.s.t"

Mutter bleibt mittlerweile heiter. Montag mittag berichtet sie: "Schwester Ramona meint: er nimmt jetzt wohl Abschied." Weiter erzählt sie ganz gefaßt von ihren Erledigungen. Sie hat ihm mit den Pi-Beuteln eine Pipette besorgt, weil er sich nichts mehr füttern lassen will. Seinen letzten Weingenuß hat er also auch eingestellt. Vielleicht kann sie ihm mit ein paar Pipetten-Tropfen Wein den Abschied versüßen. Schließlich lebt er jetzt genau vier Wochen lang nur von Flüssigkeit. Doch der Tod scheint Vater nicht mehr zu schrecken. So hat auch Mutter fast alle Furcht verloren. Ist das nicht der Sinn der Reise?

Montag nachmittag war der Alte wieder extrem unruhig, hat sich versucht an Mutter hochzuziehen, daß sie Bruder Ulrich zu Hilfe rufen mußte. Doch Doktor Harbig war termingetreu bei ihnen und hat ihm zwei Spritzen in den Popo gegeben, "aber ganz perfekt", berichtet Uli, "da sieht man morgen nichts mehr von!" Dieter-Wichtig kommt dann auch noch um 21.30 Uhr mit dem Intercity angerauscht, so sammeln sie sich dort zur Festtagsrunde. Mein Urlaub ist nun leider aufgebraucht, vor Freitag kann ich also nicht mehr kommen.

Ich rufe Ulrich nochmal an um 21.30 Uhr. Zu der Zeit rollt Dieters Zug in Dortmund ein. "Was für Spritzen hat Doktor Harbig gegeben, die Tramadolor?", will ich wissen. "Ne, die echten, nen Meter lang und fünf Zentimeter dick, die echten mit Morph und Valium und davon zwei Stück!" "Ne, hör'auf", bezweifle ich seine Wahrheitstreue, "hast Du das nicht mit einem Klistier verwechselt?" "Ne, hör' Du auf, daß Du mir das nicht in Dein Buch schreibst. Das hat der Doc ganz cool abgezogen und die Einstichstellen sorgsam verrieben. Das soll morgen keiner sehen vom Pfegedienst. Denn der Doc hat auch schon kalte Füße." "Sag bloß, warum das denn schon wieder?" "Ja, der Kuntze und das Pflegeheim, das habe ich dann da noch ins Gespräch gebracht, die verlieren ja auch alle an ihm." "Der Doktor Neukum aus Bamberg versteht garnicht, wo da die Schwierigkeiten sein sollen," versuche ich ihn zu beruhigen, "solange der Doc keine geldgierigen Erbschleicher bemerkt, die sich um des Alten Ablebens reißen, um an seine Kohle zu kommen, ist der Arzt doch auf der sicheren Seite." "Nein, wir müssen vorsichtig sein," hat er ja nun nicht Unrecht, "wir sind mit der Sache noch nicht durch. Morgen abend kommt der Doc dann wieder, daß er schlafen kann die Nacht."

Mir will das alles nicht in den Kopf. Es darf doch nicht wahr sein: Den Alten über Wochen, Monate und Jahre mit seiner Sondenkost zu quälen, was er nicht sabotieren kann, das soll normaler und gesellschaftlich anerkannter Brauch sein, doch eine helfende Spritze zur Nacht will dem sterbenden Greis irgendeine Macht nicht gönnen? Und dieses schreiende, stinkende Unrecht am Ende eines langen Lebens soll noch unter den Teppich gekehrt werden? Bloß nicht drüber reden, das große Tabuthema Tod nicht anrühren, womit sich die letzte Kohle machen läßt? Mir paßt das nicht, ich schreib's so, wie ich's empfinde. Und ich empfinde Empörung! Den Vietnam-Kriegern wollte ich genauso wenig Komplize sein wie den Gesundheits-Industriellen bei ihrer letzten Ethik-Schmiere. Oder heißt das letzte Ölung? Elende Heuchelei des christlich, sado-masochischen Abendlands, die "Leben erhalten" sagt und "Kassieren" meint. Zum Schluß macht die Industrie Kassensturz. 95 Prozent aller Gesundheitskosten, hat Dr. Neukum erzählt, verbrauchen die Versicherten in ihren letzten fünf Jahren. Diese letzten fünf Jahre Hölle sind uns also statisch gesehen schon so gut wie sicher. Und wir sollen, wollen das über uns ergehen lassen als gottgewollte Fügung? Da muß doch selbst meinen Brüdern Wichtig schlecht werden. Wer das unterstützt, arbeitet entweder in der Lobby der Gesundheitsindustrie oder in der sado-maso-religiösen-Branche, bekommt also guten "Gotteslohn" von der staatlich eingetriebenen Kirchensteuer. Sakral-Fundamentalisten sind all die schwarzen Buh-Männer, die kindische Ängste allüberall zu allen Zeiten zu machen wissen, Angst vor unseren Wurzeln: Angst vor Sex und Angst vor Tod. Hat der Mensch erstmal Angst vor Sex, seiner ursprünglichen Kraft, die ihn macht, dann kommt die Angst vorm Tod gleichsam als Nebenprodukt. Ein Mensch ohne Wurzeln lebt und stirbt in Angst.

Diesen Dienstag, den 9. Dezember, beginnt Vaters fünfte Teepump-Woche daheim in seiner Wohnung. Sein Zustand verschlimmert sich zusehends, wie Dieter mir ganz offen berichtet. Vaters Sterben hat mich nun auch wieder mit meinem großen Bruder in solcher Offenheit verbunden, daß wir brüderlich miteinander frei reden können. Ich genieße das lange Telefonat mit ihm, weil wir in klarem Austausch einander beflügeln und weiter wachsen helfen können. Es fühlt sich an, als läge der Sterbende im Hintergrund und zöge noch den letzten, stummen, sorgenden, liebenden Vaterfaden. Selbst in dem Punkt, daß ich gerne noch ein Abschiedsfoto von ihm hätte, einigen wir uns. Dieter fängt als Mann der Materie dabei - verständlich - erstmal von seiner kleinen, geeigneten Olympus-Kamera an, die er aber extra nicht mitgenommen habe, weil ihn dies Sterben zu sehr an KZ erinnere. Seine Erinnerung sei ihm unbenommen, doch ich beharre auf Unterscheidung. Vater geht seinen Weg freiwillig und so bewußt, wie er kann. Wir helfen ihm nur dabei, seinen stolzen, freien Willen sterbend zu bewahren, also leben zu können. Und weil wir darin einig sind, besteht die Chance, daß Ulrich vielleicht ein Abschiedsfoto macht. Doktor Harbig gab ihm mittags schon eine Spritze, weil der Pflegedienst ihn alarmiert hatte. Sein Blut-Kreislauf konnte seine Zehen und Nasenspitze nicht mehr versorgen, die sich schon blau zu verfärben begannen. Auch muß er nun auf der Seite liegen, weil sonst ihn, die in seiner Lunge sich sammelnde Feuchtigkeit noch vor dem Tod zu ersticken drohe, berichtet Dieter. Dieter hat schon eine Liste geschrieben, die Mutter helfen soll, die wichtigen und notwendigen Schritte nach seinem Tod zu regeln und geregelt abzuarbeiten. Er erzählt von seinen Einkäufen für Mutter: Hähnchen mit Salat. Morgen will er Milchlinge vom Wochenmarkt für sie holen. Mütterchen wolle derweil Kartoffeln dazu braten. Mütterchen entglitt mir wieder in ihr altes, jahrzehntlang geübtes Tränenmuster. Sicherlich habe ich auch nicht sogleich den richtigen Ton und Zugang zu ihrem verwundeten, verletzten Gemüt gefunden. Aber es schien mir, als war ihr Weinen nur wie ein kurzes Regnen aus einer vorüberziehenden Wolke. Danach schien mir wieder wie die Sonne, frohe Zuversicht aus ihrer Rede zuzulachen. Selbst Dieter übernimmt den schwarzen Humor, mit dem Ulrich und ich uns ablenken. Denn Lachen hilft, damit keine schwarzen, schweren Gedanken uns in die Sackgasse von Bedrückung, Schwermut und Verzweifelung rennen lassen. So erzählt Dieter, daß Ulrich ihn nach seinem Besuch im stillen Martener-Häuschen mit Garten weit weg von der BAB zurück zur elterlichen Wohnung gefahren habe. Und verschmitzt führt er fort: "Ulrich ist gleich wieder heim gefahren, damit er ihn nicht ansteckt. Denn auch das würde ihm vielleicht den Tod noch vor der Zeit geben." Ich verstehe und frage zurück: "Oh, hat Ulrich sich so sehr erkältet? Dann wünsche ich ihm gute Besserung!"

Anderntags liegt Ulrich mit Grippe im Bett. Vater hat eine ruhige Nacht gehabt. Vielleicht hält er bis morgen durch, reize ich die beiden, "warum bis morgen?" "Da hat Osho Geburtstag", unterstreiche ich die Bedeutung des morgigen 11. Dezembers. "Osho?", fragt Dieter, "oder meinst Du das Christkind?" "Na, egal, vielleicht hält er ja auch bis übermorgen durch, dann kann ich wieder kommen." "Wollen wir mal sehen", meint Mutter dazu. Schaun-ma-mal, hieße das hier in Bayern. Wir sehen heute bei einem sonnigen Föntag die dunklen Berge in der Morgensonne ganz klar, grau, riesig und unverrückbar.

Und um 10.30 Uhr geht in der Redaktion die Heftkritik los, wozu sich der neue Geschäftsführer, Martin Aschoff, genau 60 Jahre jünger als der Alte, angekündigt hat. Mein Ressortchef Burkhardt, der gebannt die Aktienkurse im Internet verfolgt, wie sich seine hart verdienten und dort angelegten Finanzen vermehren, hat mich schon vorab angemault: "Du sollst hier im Heft nicht Deine politischen Meinungen vertreten!" Ich habe mich nicht um die Besprechung gerissen, Physik-Doktor Klaus hat mich darum gebeten:

"Terror der Ökonomie

Warum mangelt es immer mehr Menschen an Wohnung, Nahrung und Arbeit? Wer kann sich noch Zugang zu Kultur, zum Internet leisten? Arbeit für alle oder ist die Arbeit alle? Derweil Computer gesteuerter Aktienhandel überhöhte Gewinne einer kaum wachsenden Wirtschaft einheimst oder abschreibt, verelenden Menschen in sogenannten schwierigen Vororten, in denen schon Überleben schwierig wird. Weil Arbeit Mangelware ist, verschlechtern sich ihre Bedingungen: "Nullstundenarbeit" läßt Arbeiter auf Abruf warten, bis sie der Unternehmer zum Bratklops wenden in der Rushhour abruft. Der Wohnort bestimmt mit, ob Jugendliche mit Handy und Palmtop Karrieren starten, oder aufbegehren "wie in die Falle geratene Tiere", die bereits besiegt sind. In den letzten 40 Jahren konnten die Unternehmen in den Industrieländern etwa 35 Millionen Menschen "freisetzen". Mit dem Schlachtruf "Umstrukturierung" steigerten Unternehmen ihre Gewinne. Erfolgreich wirtschafen, heißt, nicht wohltätig sein. Menschen werden überflüssig, wenn ihre Arbeit nicht mehr gebraucht wird. Was Broker in der virtuellen Welt per Telefon und Computer wie Spielgeld verpokern, Derivate, Wertpapiere, Wechselkurse, verliert den Gegenwert in der Warenwelt. Helmut Schmidt spottet: "Optionen auf Optionen auf Optionen". "Schlankere" Konzerne wie Renault, IBM oder Danone wirtschaften mit Gewinn und sparen drastisch: an Personal. Löhne lassen sich dank höherer Arbeitslosigkeit leichter "angleichen". Logisch: Weltbank und Weltwährungsfond empfehlen weniger Mindestlohn. So rechnet sich selbst verkürztes Leben. Wirtschaftlich gesehen verschwendet Sozialhilfe Geld, das Wohltaten wie Mindesturlaub, Kindergeld oder Sozialversicherung subventioniert. Warum sollen global organisierte profitable Unternehmen Luxus finazieren? Das nächste Schwellenland bietet dem Investor Grund, Steuerfreiheit und Arbeit fast zum Nulltarif. Daß bei 35 Millionen Arbeitslosen in den Industrieländern, bei einer wachsenden Zahl von Obdachlosen, beim modernen Sklavenhandel in Form von Sextourismus oder Organhandel eine emotionale Botschaft der Empörung überfällig ist, beweisen die wenigen Seiten von Viviane Forrester. Doch was ändern 215 Seiten am "Terror". Und ob allein die Ökonomie die Entwicklung verursacht, bleibt als letzte Frage. (et) Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie, Verlag Paul Zsolnay Wien 1997, ISBN 3-552-04849-9"

Na, was davon im Heft übrig geblieben ist, reicht schon zu scheelen Blicken und harschen Worten. Als Doktor Klaus mich um diese Besprechung bat, die mir eine Freude war, da wußte er vielleicht schon, daß er kündigen wollte. In diesen Tagen läuft also sein Vertrag hier als Arbeitnehmer ab. Immer wieder erfüllt sich irgendein schauriges Gesetz von Murphy: Immer gehen die Leute, zu denen sich nach langer Zeit eine freundschaftliche Verbindung abzeichnet: Herwig Weihe, der behäbige Unternehmersohn, Kerrin Uhlmann, die junge, schlanke, große, blonde Professorentochter aus Jena auf meinem Zimmer, Bernhard Rinke, der Drucker-Gott aus dem schönen Rothenburg mit besten Beziehungen, Alois Kneisle, der Schwabe mit verfallendem Bauernhoferbe, Dr. Klaus Schlüter, der Wißbegierige, Karl-Theo Hartmann, der "Gnurm", und heute Manfried Meyer, gewiefter Pfarrersohn und mein Nachfolger vor zwei Jahren im Online-Ressort. Als Trost mag gelten, daß auch andere gingen. Zur Kehrseite eines Traumjobs gehören eben auch Alpträume.

Der Arbeitstag mit meinen Tips-&-Tricks Seiten laugt zudem aus. Abends mag ich nicht einmal mehr die attraktive Presseveranstaltung von Microsoft, Lupe genannt, im edlen Gasthof genießen. Zwei Kollegen nehmen den Termin ohnehin wahr. Ich will nur ausruhen, zur Ruhe kommen, die Gedanken von Oshos Lecture im TAO in fröhlichere Richtung ziehen lassen. Ma Mukti begrüßt mich lieb, setzt sich nur nach der Meditation auf Swami Sagareshs Schoß. Dafür klingelt mich Erdferkel an, als ich gerade die Haustür aufgeschlossen habe, und gibt weiteren Halt für die sich verlierenden Gefühle meiner Sicherheit. Nach dem Gespräche mit meiner lieben, vermißten Freundin rufe ich Dieter an. Er arbeitet an Vaters Schreibtisch und spricht voller Ruhe und Würde: "Er ist jetzt sehr, sehr ruhig. Seine Nieren sind nun ausgefallen, es geht kein Urin mehr ab." "Morgen wäre ein guter Termin zu gehen," wiederhole ich mich. Dieters Ernst und Aufrichtigkeit bleiben unbeteiligt.

Das TAO hat seine Rechnung geschickt über 402,50 Mark, die ich vom gleichen Rechner, dessen Datenträger ich jetzt beschreibe, schnell noch überweise. Die Kohlezeichnung von Ma Vimal Prem sieht aus wie ein Foto. Im Anzeigentext verzichte ich auf einen Namen, dafür ziert mein Lieblingswort "FREI" meine Annonce:

"1. Reiseführer Poona 2. Vaters Sterben und Tod Freier Download: http://www.wildcat.erding.de/hompage/index.html"

Ma Vimal Prem, was "reine Liebe" bedeutet, hat die Angelegenheit gut eingefädelt. Am 19. Januar 1990 starb Osho und Ma Vimal Prem zog aus unserer gemeinsamen Höhle aus. Auf mein damaliges Trennugsbuch gab sie den heute noch passenden Kommentar:

"Liebe unter Toten oder Tod als Gegenteil von Liebe

Es ist wieder mal soweit! Der schale Geschmack der Beziehungslosigkeit macht sich breit. Einzig störend dabei ist das alte, nackte Skelett einer Beziehung, die einmal war, oder vorgab vorhanden zu sein. Jetzt steht sie im Raum, lächerlich sinnlos, albern, man könnte lachen, wenn es nicht so abgrundtief traurig wäre... Wieder die Fragen nach dem Warum, nach der Schuld natürlich, als wäre dadurch etwas gewonnen. Die Unerträglichkeit der Situation äußerte sich wie immer in Kleinigkeiten, Streitereien um Dinge, die es nicht wert sind, um sie zu streiten. So fängt es wohl an. Das Ende ist Mißverständnis, die große Kluft des Schweigens, Sich-An-Ödens, Trennung zum Schluß. Und dann das gleiche noch einmal bitte!! Immer wieder, immer wieder, immer wieder - bis zum Tod. Tod setzt voraus, daß man lebt - war das Leben??? Mann und Frau passen nicht zueinander - ist es das? - sollen die alten Pessimisten recht behalten? Wir geben ihnen recht!!

Das Ende einer Beziehungslosigkeit

Das Ende einer Beziehungslosigkeit besteht entweder in der Kündigung der AneinanderKettung oder in einem Kampf. Dieser Kampf ist ein Kampf gegen den Alltag, gegen die Gewohnheit, gegen das Gewöhnen an den Tod, der stets so tut, als sei er das Leben. Einer der schwierigsten Kämpfe, weil man ihn allein austragen muß, in sich, weil niemand einem sagte, wie man kämpft. Geboren, erzogen, erwachsen, ausgebildet wurde man nicht für das Leben - wer das glaubt, befindet sich im Irrtum. Das Leben, was einem geschenkt wurde, besteht aus biologischen Stoffwechsel- und Reproduktionsvorgängen. Wer sich darauf reduziert ist ein Tier, oder nicht einmal, eine Maschine eher, geboren zum Funktionieren, gelebt zum Produzieren, gestorben, weil ihn niemand mehr braucht. Natürlich gibt niemand zu, daß das auf ihn zutrifft. Jeder verfügt über genügend Mittel, sich von dieser traurigen Tatsache abzulenken. An erster Stelle steht der Partner, dann die Medien und der explodierende Freizeit- und Urlaubsmarkt. Äußere Bewegung war schon immer dazu angetan, die innere Stagnation zu vertuschen. Der Partner aber erfüllt seine Funktion in dieser Hinsicht oft vorzüglich. Denn schließlich liebt und braucht er einen, kann ohne einen nicht leben, gibt einem Sinn und Halt, Liebe - Leben. Doch wehe, wehe, wenn sie zerbröckelt, die schöne Fassade der gegenseitigen Liebesbestätigung und Sinngebung, dann sieht es finster aus in den Traumhäusern und Traumwohnungen und Traumehen. Mord und Totschlag schlagen schon früh ihre Wurzeln und drücken doch nur das aus, was in so vielen vor sich geht, Tag für Tag. Die Lüge und der Tod sind allanwesend, allmächtig und kommen stets in den schönsten Gewändern daher, deshalb wollen wir sie ja auch nicht missen. Doch wehe, wenn sie offen und ungeschminkt daher kommen, dann entrüsten wir uns, auf's äußerste natürlich, das haben wir ja nicht gewollt, wir sind zivilisiert und kultiviert - bitteschön - wir lieben das Leben und die Liebe und unsere Kinder - bitteschön - hat da irgendjemand 'was gesagt???"

Daß wir einander mehr jetzt noch achten, daß ich Dir sogar Deine Blumen gießen soll, wenn Du in den nächsten Tagen für Wochen nach Poona abdüst, läßt uns miteinander witzeln: "Männer wollen nun doch nicht immer nur das Eine. Bei uns war das Andere immer wichtiger und besser."

Liebe Mutter, Brüder und deren Angetraute, meine ungeschickten Fingerschreibübungen trösten mich, Euch nicht? Vielleicht später einmal: "Gut Ding will Weile haben" - einmal kein Spruch der Hölle, wie so oft in Volksweisheiten. Trennungsschmerz zu verarbeiten, zu verstehen, kostet oft Jahre. Meditationen helfen in der Situation. Hinter Zorn versteckten, hilflosen Schmerz zu fühlen, seine Unsicherheit und Schwäche ertragen zu lernen, sind kleine Stufen schon auf dem Anstieg zur Erkenntnis. Für den, der seine Wahrheit erkennen will, gibt es aus diesem Grunde keinen größeren Gewinn als den Verlust. Wer zu erkennen beginnt, sieht, was er verliert: Identifikationen wie Ketten zur Sklaverei, verödete Sinne, die nichts schmecken, nichts fühlen, nichts hören, nichts sehen, Gedankenmühlräder, die Alpträume bei Tag und bei Nacht drehen. Das ewige Bewußtsein geduldet sich, uns aufzuwecken Leben, um Leben, um Leben. Doch jeder Tod verhilft dem Leben einen Schritt weiter zu mehr Bewußtsein. Nützen wir Vaters Tod! Fangen wir an! Die Uhr läuft ab, unsere Tage werden kürzer und kürzer. Es bleibt kaum Zeit mehr für kindische Spiele.

So kommt Donnerstag, der 11. Dezember und er lebt immer noch. Seine röchelnde Nacht hat sogar wieder die Nieren aktiviert. Mittags kommt wieder der Arzt. Und ich schmiede schon Reisepläne mit der Tochter für morgen nach der Arbeit, um ihn nochmals zu verabschieden.... Wirklich nochmals?

Doch erstmal kommt Oshos Geburtstagsfete im TAO. Noch haben wir das TAO, noch haben wir den großen Raum, den wir mit Wärme, Liebe, Stille, Tanz und Tralala füllen können mit mehr als 100 Menschen. Und der Raum war voll. Und diejenigen, die keine weißen Roben, kein Laken, mitgebracht hatten, konnten nicht einmal mehr eins ausleihen. In Köln habe ich, der ich mit Mima ohne Robe kam, für drei Mark eine Robe mieten und 20 Mark Pfand hinterlegen müssen. Egal im TAO, nun neun Monate vor Geschäftsschluß sind die fundamentalistisch religiösen Geschäftsgrundlagen mangels Interesse ohnehin schon so ins Wanken gekommen, daß Ma Rajitha zum Schluß auch ohne Robe Einlaß findet.

Das TAO-Büffet zur Feier war wieder von erlesener Qualität. Wer die Meditation gleich mit dem ersten Liedchen danach verläßt, braucht nicht einmal anstehen, schaufelt sich schnell seinen Teller voll und findet sogar noch Sitzplatz im Café.

Die Runde um Nataraj, endlich wieder einer, der sich erstens erleuchtet zu nennen erdreistet und zweitens so Satsang verkauft, ist schon eine Provokation für fromme Fundis. Diese blinzeln mißtrauisch auf den langen Tisch vor dem Buchladen, wo wir lachend rumalbern wie am Anfang unserer Sannyas-Zeit vor vielen, vielen Jahren. Ma Vardhan, Swami Riesenbaby, auch Wassermann übrigens, Swami Nataraj, die schöne Engländerin, Ma Vimal Prem, Ma Anand Sambhavya, Ma Mallika, Swami Aschu, Ma Prabodh Anne... da kommt Freude auf, wäre zu wenig gesagt.

Swami Nataraj lädt Samstag zu seiner privaten Erleuchtungsrunde, ein attraktiver Termin, besonders wenn die unverschämt reizende Schönheit, Ma Patchura, käme, die sich auf Natarajs Schoß richtig in Stellung und zur Geltung bringen kann. Nur kann sie dabei schlecht essen. Aber mein Angebot, sie zu füttern, nimmt sie nicht an, noch nicht. Sonntag nacht droht mal wieder Vollmond, mir jucken die Finger. Die Pflicht meiner Tips-&-Tricks-Seiten lastet mich zwar aus, aber zur Kür juckts in den Fingern. Hier Buchstaben tanzen zu lassen, befriedigt auf die Dauer ebensowenig, wie Papierservietten zu knutschen.

Ma Vimal Prem tischt einige Erinnerungen unserer gemeinsamen Jahre auf, worüber uns heut Lachtränen über die Wangen kullern. Wie unverändert die Frau nur geblieben ist, denke ich! "Komisch, welche Mädchen mir im Leben so gefallen," sinniere ich unter ihrem lachenden Protest: Das gleiche Puhlen und Zupfen an ihrer Lippe wie 1985 mit mittlerweile noch spitzeren Skorpion-Finger-Zangen. Ihr Babyspeck ist weg - leider. Mittwoch fliegt sie für einen Monat ab. Ihre Blumen soll ich ab Weihnachten gießen.

Swami Nataraj kann es kaum erwarten, sein Gefolge für die griechische Kneipe Vassili um die Ecke zu organisieren. Im TAO beginnt die Aufbruchsunruhe, also folgen Ma Vimal Prem und ich noch zum fröhlichen Umtrunk ins Vassili-Stübchen.

Die Kneipe dreht kurz vor Mitternacht voll auf Absturzkurs. Dicke Rauchschwaden würden meine Freundin Ma Veet Mimansa sofort umdrehen lassen. Doch einen Tee leiste ich mir, den ich zu zahlen vergesse. Wie wohl sich Swami Nataraj, der Zahnputz-Gläser von Ouzo abpumpt, fühlt, weiß ich nicht. Mich stören die Zigaretten-Rauch-Schwaden, weder mein Stil, noch mein Geschmack. Ma Vardhan fragt noch nach meinen Schreiben, die sich in der Szene rumzusprechen beginnen: "Woher bekomme ich die denn jetzt?" "Du mußt einen kennen, der einen Computer hat, der saugt Dir den Text aus dem Internet." Sie sitzt auf dem Schoß von Swami Riesenbaby, der mit seinem Mac in der Layout-Branche Geld verdient. Er läßt sich meine Homepage auf einen Bierdeckel schreiben, Swami Nataraj Anschrift zu seiner Samstags-Feier hat Vimal mir aufgeschrieben. Den Ort verlasse ich, sobald ich meinen Tee geschlürft habe, ohne zu zahlen und bitte Vimal: "Paß auf die Jungs auf." Daheim kommt das verrauchte Hemd gleich in den Waschtrog. Ich drücke den Schaltknopf für die Heizung des Badeboilers im Keller. Nach diesem Abend brauche ich morgens ein Bad.

Das Telefon weckt mich. Es ist noch dunkel. Ich schaffe es, den Hörer zu erreichen, bevor der Anrufbeantworter sich einschaltet. Dieter beginnt förmlich: "Es tut mir leid, Dich so früh..." "Hat er's geschafft?" "Ja, um 4.00 Uhr", sagt Mutter, "hätte er noch geatmet mit rasselnder Lunge. Jetzt ist er ganz still!" Ein bißchen Blabla geht noch hin und her, wie Arzt weiß Bescheid und kommt gleich, stellt Totenschein aus.... Doch mein Vorschlag, den Sekt im Kühlschrank zu öffnen, stößt nur auf verhaltene Gegenliebe. "Was machst Du jetzt?", fragt Dieter. "Celebrate, we celebrate everything," passe ich mich seiner verhaltenen Ruhe an. Doch innerlich jubele ich, was ich in gesetztem Englisch verschleiere: "Lies mein Buch, da findest Du meine Sicht dazu." "Mir hat Dein Buch niemand gegeben. Und hier haben wir auch keine Zeit für Bücher." Egal, Vater hat seinen Willen und seine Ruhe. Wir haben ihm helfen können und dürfen, was wollen wir mehr?

Nach dem Bad rufe ich Ulrich an. Heike ist wach, Ulrich krallt sich ganz krank und verschnupft den Hörer: "Ja, was ist denn?" "Er hat's geschafft!" "Ja? Ich bin krank." "Ja ich merk's, er hat's geschafft, Du aber nicht!" "Stimmt, ich hab's noch nicht geschafft." "Ich weiß ja nicht, ob Du noch hinfahren kannst," dränge ich ihn, "aber Du solltest wirklich noch Bilder von ihm machen." "Hä, was?" "Ja, Fotos, früher haben die Menschen sogar Totenmasken gemacht, das kennst Du doch von Beethoven, oder? Und Fotos sind doch so leicht zu machen, heutzutage. Und wir werden ihn doch jetzt nie wieder sehen." "Ich glaube, das brauchen wir nicht," schmettert er meinen Wunsch mürrisch ab.

Meiner Tochter Esther sage ich am Telefon die heutige Reise auch gleich ab: "Ich glaube, das können wir uns jetzt sparen, nach Dortmund zu fahren. Feiern wir lieber hier unser Leben, Du mit Ingo, ich hier." Ich bin mir sicher, daß sie meinen Humor daheim nicht mögen, sie werden betreten über meine Freude hinwegsehen. Meine Abschiedsfreude mit Vater feiere ich besser hier. Wie fragte Ma Vardhan bei Vassili: "Und was bekommst Du für Dein Schreiben?" "Das schenke ich meinen Schwestern und Brüdern im Geiste des Herrn." Und Doktor Klaus zitiert aus den Sprüchen der Hölle: "Was nichts kostet, ist nichts wert." Er hat recht. Es ist auch keinen Pfennig wert, weil Du Freude nicht kaufen kannst, sowenig wie Liebe, wie Erleuchtung.

 


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12. Das Begräbnis

Heute wird Vater begraben: 15. Dezember. "I do it my way", zieht mir das bekannte Lied durch den Sinn. Das heißt, ich bin nicht dabei. Es ist eine Formsache. Mutter habe ich geraten, immer gut morgens Orangen auszupressen. Denn diese Vitamine haben mich nun hier schon mehrere Winter ohne Erkältung gelassen. Und gerade Friedhöfe im Dezember sind nun mal zugige Plätze. Sie hat vielleicht etwas traurig gelacht. Sie hätte mich lieber gerne dabei gehabt. Aber daß Pflicht vorgeht, ist Teil unserer deutschen, traditionellen Familienkonditionierung. Ist wohl auch gut so, zumindest nicht ganz verkehrt.

Die Erleichterung nach den schweren, vergangenen Leidensjahren lösen sich in mir zu freudiger Entspannung auf. Mit meinen Arbeitskollegen feiere ich das Abschiedsfest beim Mittagessen.

Die fromme white robe brotherhood meditation am Freitag abend mit sakral-klerikalem Charakter läßt mich weiter entspannen, meine Sorgen vergessen. Die kleine Ma Vimal Prem nimmt mich dann, der ich mich schwach und schutzbedürftig fühle, mit zu sich nach Hause. Schließlich muß ich ja noch wissen, wie ich ihre Blumen gießen soll.

Ihre Abendration Rotwein, den sie mit getrockneten Brotstäbchen mit Chillisauce begleitet, sehe ich mir staunend an, wie ich staunend ihren philosophisch geschulten diplomierten Ausführungen lausche. Sie liest Gedichte, zeigt ihre Bilder. Ich bin dankbar, schließlich verdankt meine Internet-Homepage ihr mein Konterfei. Daß ich etwas anderes will und brauche, ist doch nicht ihr Problem. Nur schwach melde ich meinen Wunsch nach Bett und Ruhe so an, daß ich nur ihren Rotwein mit ihr trinke, wenn ich denn dort auch schlafen kann. Ein Rucken geht durch ihren Körper. Und sie gißt mir roten Wein ein.

Das Glas steht vor mir, bis sie sich ausgequasselt hat. Das geht vergleichsweise schnell heut am Freitag abend, weil sie sich nachts davor, an Oshos Geburtstag schon stundenlang in Vassilis Absturzkneipe bis zum Geschäftsschluß mental aktiv ausgetauscht hat. Also bin ich nach drei Stunden wunderbarer weiblicher Lyrik endlich in ihr Bett entlassen. Daß ich nicht abends um 21.00 Uhr meinem Körper den Schlaf gegönnt habe, den er leise erbat, soll sich rächen.

Anderntags fliehe ich also den gastlichen Ort, der mir nicht einmal diese mutige Zuversicht verschaffen konnte, unter ihrem im Kleidertausch erhandelten Jogging-Anzug nach ihren interessanteren Zonen zu suchen. Doch dieser Anzug von der MG-Road in Poonas City-Center erinnert mich zusehr mit ihrer Energie darin an einen Judo-Kampfanzug. Und dem Kampf fühlte ich mich denn doch nicht gewachsen. Bevor wir zu Bett gehen, räumt sie noch ihren Schmöker zur Seite: "Scham, die krank macht."

Also räume ich morgens nach ihren weiteren freundlichen Lesungen das Feld. Erste Anzeichen schwerer Kopfweh merke ich schon beim Frühstück, wo ihr Stückchen Kuchen meine einzige Tagesration diesen Samstag bleiben sollte, nur nicht in meinem Magen. Gehend probiere ich noch ihren Zweitschlüssel, der mir Zugang zu ihren Blumen verschaffen soll. Doch das Teil ist auch 'ne Niete. Jedenfalls kann sie selbst damit auch nicht ihre Tür öffnen. Also, auf ein Neues?

Der Samstag reicht gerade noch, um am wunderbaren Fürstenfeldbrucker Bauernmarkt das nötige Futter zum Wochenende zu raffen, heim zu schleppen und sich ins Bett zu hauen. Doch die Kraft reicht nicht mehr, um den Diesel aus dem Halteverbot zu steuern. Denn dann ist schon der Kopfweh-Count-Down da mit den üblichen Symptomen eines überladenen Hirns: Erbrechen, Kopfweh und umgekehrt. Nur der Schlaf schafft Erlösung.

Abends telefoniere ich mit Erdferkel. Ich beklage mich bei ihr über meine Dummheit, bei Vimal um Halt gesucht zu haben. Sie rät zu Disco. Doch Swami Nataraj gibt Samstag abend privat Satsang in seiner häuslichen Stube. Alte Bekannte sind versammelt, Swami Anuragi, der Pianist, Swami Devagyan, das Riesenbaby, und seine Freundin, Ma Vardhan, die Buchhändlerin. Ein wenig Tanz und Tralalala läßt mich schutzbedürftig nach Ma Vardhan greifen, sie drücken, an ihren langen, blonden Flechten ziehen. Swami Devagyan füllt den Raum mit seinem Brüllen: "Abstauber! Das ist meine Alte!" Entsetzt haut unsere Innigkeit dieses Kampf- und Besitzgebrüll auseinander. Doch ich höre sie beim Abschied hauchen: "Wenn Du abstauben willst, bist Du willkommen."

"Was die Leute hier eigentlich wollen, weiß doch keiner", meint Nataraj. "Doch", meine ich, "abstauben." Doch die Szene gibt nur nichts her dafür. Ma Vimal Prem verläßt den Ort: "Da krieg ich Kopfweh hier, das ist Hitler-Satsang!" Auf das Wort Copyright zu erheben, womit ich Anamos Satsang-Sessions zu erklären und zu verdauen versuche, habe ich, wie so vieles, versäumt.

Ich begleite sie also nur hinaus, doch wie sie dann im eigenen Auto zur TAO-Samstag abend Disco fahren muß, weiß ich schon um das Ende ihrer Verlockung, hole mir Wasser aus meinem Auto und lasse sie fahren. Da ist mir Satsang lieber mit Nataraj als mit ihr!

Bei Swami Nataraj endet ein denkwürdiger privater Satsang Abend. Mein Hirn ist frei. Mein Körper jubelt. Die TAO-Disco lockt. Eine kleine, rothaarige Hübsche nehme ich gleich noch mit, zahle ihr den Eintritt, den uns Swami Premteerth von 30 Mark auf 20 ermäßigt. Schließlich ist auch schon Mitternacht. Und die Kleine Ma Deva Rupa darf rein und ihren Sekt von mir schlürfen. Ma Bela, die Geburtstag hat, spendiere ich auch gleich ein Gläschen, was sie sogar annimmt. Doch ihr nochmal ein Kompliment zu machen, daß sie geil aussähe in ihrem Miniröckchen beim Tanzen, werde ich tunlichst vermeiden. Die Diskussionen darob ermüden einfach nur: "ÄH? Wie meinst Du das: GEIL?!"

Also schlappt sie ihr Glas ohne meine anmaßenden Anzüglichkeiten. Ich will nur tanzen, feiern. Ma Anand Sambhavya schwingt sich gleich ein in meine wilde Feier. Und wir tanzen bis zwei Uhr nacht. Schon mein Sängerfreund Harald hat vor 12 Jahren einmal Ma Anand Sambhavya getestet. Er war bald verzweifelt an ihr, weil ihr nichts recht zu machen sei, wenn ich das recht erinnere. Das kann ich mir denken, weil sie schließlich als Sternzeichen Wassermann hat wie ich. Deshalb hatte ich auch noch nie eine Wassermann-Freundin, weil ich für deren kosmische Empfindlichkeit stets zu trampelig war. Wie schwierig ist es, merke ich an der Bar, als ich sie zum Sekt lade: "Ich möchte feiern mit Dir. Ich habe nämlich geerbt!" "Was, Du hattest doch immer schon genug!" "Äham", entschuldige ich mich, "ich wollte damit doch nur sagen, daß Väterchen heut gestorben ist." Das stimmt sie wieder gut.

Jedenfalls spare ich mir so ziemlich jeglichen Kommentar außer dem vielleicht noch, als sie bei mir im Wagen sitzt und ich ihre wogende Pracht unter dem Anorak taxiere: "Ich möchte schwimmen in einem Meer von Glück!" "Kann schon sein", gibt sie mir immerhin nicht gleich Unrecht.

Je weniger wir dann im Laufe der Nacht reden, umso mehr verstehen wir uns. Ich bin begeistert von ihr. Obgleich mir mit ihr auch nichts anderes einfällt als mit anderen, ist es auf einer andern eben immer wieder ganz anders.

Vorsichtig versichere ich mich zwischen unseren verschiedenen "Gong-frei-zur-nächsten-Runde" immer noch, ob es ihr gut gehe, ob ich nicht zu schwer sei, ob sie genug Luft bekäme? "Ist o.k., ich kann das ganz gut haben, wenn mich ein starkes Mannsbild drückt," verfällt sie in den Tonfall ihrer Kinderjahre, die sie wie Vimal in Friesland begann. Kannse haben, denke ich: coito, ergo sum.

Schade am Fest ist nur, daß sie unsere jubelnde Brösel-Tee-Freuden schon Sonntags um 16.00 Uhr beenden muß. Dabei steht es noch so ziemlich unentschieden zwischen uns. Das heißt, noch hat sie mich nicht besiegt. Wie sehr ich am Ende bin, merke ich am Morgen danach, nach 10 Stunden Schlaf. Mir schmerzen alle Glieder. Ich weiß nicht, wie ich den Umzug in der Firma diese Woche schaffen soll.

Unser himmlischer Zweikampf macht uns paradisische Freude. Und im Einverständnis zweier ringend schnaufender Walroßkörper nimmt sie sogar meine Unverschämtheiten mit blondinenhaftem Engelslachen bei halbgeöffneten Lippen: "Dazu brauch' ich mich jetzt ja wohl nicht zu äußern," gibt sie mir zum Beispiel damenhaft und galant zu bedenken. "Ach," beginne ich nur leicht zu verzagen "um der Wahrheit die Ehre zu geben: Am liebsten ist mir, Du stöhnst einfach nur und sagst NICHTS!" Sie lacht ganz glücklich, weil unsere Körper miteinander zu sprechen verstehen. Und das ist mehr als 1000 Worte.

Abends ruft Erdferkel an und fängt gleich munter wissend an: "Na, Du kleines, gerupftes Hühnchen!" "Wie bitte?" "Na, Du kleines gerupftes, humpelndes Hühnchen!" beharrt sie frech und allwissend mit ihrer unendlichen weiblichen Weisheit. Ich verteidige mich noch schwach: "Wer spricht dort? Ich kenne keine Dame, die mit solchen Tönen zu mir Verbindung pflegt." "Hier spricht Erdferkel, Du kleines, gerupftes, humpelndes, abgemagertes Hühnchen!"

Na, gut. Ich erzähle ihr alles, und bitte gleichsam gestehend um mildernde Umstände: "Das ist schrecklich, wenn zwei Walrösser kämpfen. Ich dachte, das Bett bricht zusammen. Im Innenhof vor dem Haus stand schon eine Gruppe von Sonntagsspaziergängern, die mithören wollten. Ich habe ihre Blicke durch die Scheiben gefühlt, als ich die Musik wechselte." "Na, warte nur!", droht sie mir. Auch das lernt man bei Frauen. Doch als sie anderntags ihren gewohnten Anruf am Nachmittag ausläßt, wird mir ganz mulmig zu Mute.

Heute wird nun Vater begraben. Ich kann nicht dabei sein. Der Job, der Streß, Blabla... Ich habe geträumt von ihm. Er hatte sich noch einmal ein wenig erholt, kaufte stumm Blumen ein. Ich schob ihn im Wagen. Doch ich verirrte mich im Weg. Ich lief allein zurück, um nach den Schildern zu sehen. Als ich ihn im Wagen wieder holen wollte, hatte er sich darin ausgekippt. Er steckte schon bis zur Nasenspitze in der Erde und hielt mir nicht einmal eine Hand entgegen, um ihn aus dem Schlamm zu ziehen. Ich wühlte noch nach ihm, doch ich konnte nichts mehr von ihm fassen. So versank er. Und ich feiere mein Leben und seinen Tod weiter - auf meine Art: "I do it my way!"

Abends kommt dann noch eine weitere Abschiedsfeier, die Swami Anamo im Internet schon angekündigt hat: http://www.btinternet.com/~anamo Der Erleuchtete Swami Anamo läßt seinen erleuchteten Geschäftskollegen oder Mitbewerber Swami Nataraj wieder teilnehmen am Satsang, nachdem er ihn zuvor rausgeschmissen hatte. The show must go on. Aber das ist eine andere Geschichte.

 


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